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Nur Zulieferer? Dokumentar-Fotografie und visual history

Zwischen Bildern und Geschichte

Der Historiker Gerhard Paul kommt in der Einleitung zu einem Sammelband (pdf) mit dem Titel „Von der Historischen Bildkunde zur Visual History“ u.a. zu folgenden Schlußfolgerungen:

„Selbst die Lokal- und Regionalgeschichtsschreibung hat sich in der Zwischenzeit den Bildern der Geschichte und der Visualität des Geschehens zugewandt,wie exemplarisch Untersuchungen über die »visuelle Erinnerungs- und Geschichtskultur in Kassel 1866-1914″  oder eine neue Studie über »das fotografische Gedächtnis« des Saarabstimmungskampfes von 1934/35 demonstrieren.
Ausgehend von den aktuellen Standards der fotohistorischen Forschung werden hier zentrale Siegesbilder als visuelle Inszenierungen dekonstruiert und die unterschiedlichen Perspektiven deutscher und ausländischer Fotografen auf die Ereignisse rekonstruiert.
Charakteristisch für alle diese Studien ist ein »eklektizistischer Methoden-Mix« (Karin Hartewig), der sich ikonografisch-ikonologischer Methoden, semiotischer Ansätze als auch Verfahren der Soziologie bedient. Dieser »Wald- und Wiesenweg« der Praktiker habe eine »Fülle überzeugender Darstellungen und Bildpräsentation« hervorgebracht.“

Später weist er darauf hin, daß der Wiener Historiker Gerhard Jagschitz den Begriff in Deutschland eingeführt hat und dehnt ihn dann über die Fotografie hinaus aus.

„Nur mit dem von Karin Hartewig als »eklektizistischem Methoden-Mix« bezeichneten Verfahren, das abhängig vom zu untersuchenden Gegenstand Methoden der Hermeneutik, der Semiologie, der historischen Kontextualisierung und des Vergleichs anwendet, dürfte es in absehbarer Zeit möglich sein, den komplexen Zusammenhang von Bildstruktur, -produktion, -distribution, -rezeption und Traditionsbildung zu bearbeiten und auf diese Weise ungelösten Problemen der Geschichte seit Beginn der visuellen Revolution auf die Spur zu kommen. Visual History bedarf daher – ähnlich wie die Ikonologie – ständiger Grenzüberschreitungen, Improvisationen und der Bereitschaft zur Interdisziplinarität.“

Zuguterletzt schreibt er dann:

„Der Begriff Visual History umschreibt somit drei Ebenen:

  • die Erweiterung der Untersuchungsobjekte der Historiker in Richtung der Visualität von Geschichte und der Historizität des Visuellen,
  • das breite Spektrum der Erkenntnismittel im Umgang mit visuellen Objekten
  • sowie schließlich die neuen Möglichkeiten der Produktion und Präsentation der Forschungsergebnisse.“

Puuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuh

Früher hat man gesagt, welche Materialien man zwischen Überrest und Tradition als historische Quellen nimmt, um damit zu arbeiten. Heute grenzt man sich ununterbrochen von anderen „Wissensgebieten“ ab, um dann noch ein neues Wissensgebiet zu „finden.“

Aus Sicht von Herrn Paul hört sich das Ganze für mich so an, als ob die Fotografie eine Art Zulieferer für die Geschichtsforschung sei.

Das kann man aber auch anders sehen.

Fotografie auf Augenhöhe

Wenn wir den deutschen Sektor verlassen und ein paar Jahre zurückgehen, dann können wir das Buch von Peter Burke „Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen“ finden.

Er schreibt folgendes: „Der Filmtheoretiker Siegfried Kracauer (1889-1966) verglich einmal Leopold von Ranke (1795-1886), lange Zeit der Inbegriff einer objektiven Geschichtsschriebung, mit dessen Zeitgenossen Louis Daguerre (1787-1851), um darauf hinzuweisen, daß Historiker wie Photographen jeweils aussuchen, welchen Aspekt der realen Welt sie portraitieren wollen.“

Damit ist plötzlich die Fotografie auf Augenhöhe in der Geschichtsschreibung.

Es ist eben alles nicht so einfach.

Wenn Fotografen etwas dokumentieren wollen, dann ist es oft ein Ereignis, eine Situation oder ein Thema – oder alles gleichzeitig.

Damit entsteht dann auch fotografisches Material, auf das eventuell später Historiker zurückgreifen können.

Beim Anschauen der vielen Serien zur Dokumentarfotografie ist mir immer wieder deutlich geworden, daß hier oft der einzige visuelle Eindruck eines Ablaufes, einer Situation oder einer Veränderung festgehalten wurde. Oft schreiben die fotografischen Serien die Geschichte wenn es um sozialdokumentarische Fotografie geht.

Wenn ich auf die Metaebene wechsle und untersuche, wer die Fotografie wie gebraucht, dann ist das wieder anders

Ohne Worte

„Bilder können Zeugnis ablegen von etwas, das nicht in Worte gefaßt werden kann.“

Dieser Satz von Peter Burke zeigt die Richtung.

Immer mehr von immer weniger

Gerade heute leben wir in einer Zeit, in der nicht nur immer mehr – sondern von immer weniger immer mehr fotografiert wird.

Reale Themen wie Armut in unserer Gesellschaft werden dagegen so gut wie gar nicht mehr fotografiert.

So ist die Dokumentarfotografie heute in jeder Form besonders wichtig als Element der zukünftigen Geschichtsschreibung, weil sie Dinge hinterlassen kann, die heute jenseits der Schriftlichkeit vieles dokumentieren.

Was bleibt?

Aber schon sind wir im nächsten Problem.

  • Wie soll denn die Dokumentarfotografie etwas hinterlassen?
  • Gedruckt auf Papier oder online?
  • Wenn online, wer sammelt es denn?

Die deutsche Nationalbibliothek müßte es, kann es aber nicht. Bliebe die NSA und archive org.

Ob das reicht?

Was aktuell online ist kann ja abgefragt werden. Aber damit ist nur das vorhanden, was online ist. Hier kommt dann die Gretchenfrage des Urheberrechts ins Spiel, ob man alles abkopieren darf, um es Dritten zur Verfügung zu stellen. Viele Fragen, wenig neue Antworten.

Es ergeben sich also für die Geschichtsschreibung immer mehr Fragen, die zeigen, daß heute vieles neu gedacht werden muß.

Vielleicht hat Gerhard Paul eine Antwort für die Praxis der Geschichtsschreibung gegeben, die sich aus der Begegnung mit der  Dokumentarfotografie ergibt.

Es ist der „Wald- und Wiesenweg der Praktiker“.

Meine Erfahrung ist, daß es besser ist, das auszuwerten was da ist, als darüber nachzudenken, was man brauchen würde, um es umfassend zu tun. Es steckt bei der Analyse meistens viel mehr drin und es ergeben sich immer neue Dimensionen, wenn man erst einmal angefangen hat.

Und so ist es auch mit Fotos als historische Quellen.

Nun ist dies kein wissenschaftlicher Aufsatz sondern ein Wald- und Wiesenaufsatz mit wissenchaftlichem Wanderstock als Einstieg in diesen Wald der Materie.

Meine Überlegungen unterstützt durch die Herren Paul und Burke dürften ausreichen, um das Thema anzuschneiden und darauf aufmerksam zu machen.

Ich hoffe nur, daß zum Schluß die Wortwahl der neuen Historiker noch so verständlich und eindeutig bleibt wie früher.

Denn wenn ich eins gelernt habe dann dies:

Sozialwissenschaften zwischen Soziologie und Kommunikation bilden so gerne Fachsprachen, um sich abzugrenzen und zu brillieren, daß man zum Schluß denkt, ein Furz ist eine fulminante Erscheinung am Rande des persönlichen Universums mit ästhetischem Potential und sinntranszendierender Stimulanz.

Das muß nicht sein.