„Das Bewußtseyn der Thiere ist demnach eine bloße Succession von Gegenwarten, deren jede aber nicht vor ihrem Eintritt als Zukunft, noch nach ihrem Verschwinden als Vergangenheit dasteht; als welches das Auszeichnende des menschlichen Bewußtseyns ist.
Daher eben haben die Thiere auch unendlich weniger zu leiden, als wir, weil sie keine andern Schmerzen kennen, als die, welche die Gegenwart unmittelbar herbeiführt.
Die Gegenwart ist aber ausdehnungslos; hingegen Zukunft und Vergangenheit, welche die meisten Ursachen unserer Leiden enthalten, sind weit ausgedehnt, und zu ihrem wirklichen Inhalt kommt noch der bloß mögliche, wodurch dem Wunsch und der Furcht sich ein unabsehbares Feld öffnet: von diesen hingegen ungestört genießen die Thiere jede auch nur erträgliche Gegenwart ruhig und heiter.
Sehr beschränkte Menschen mögen ihnen hierin nahe kommen. Ferner können die Leiden, welche rein der Gegenwart angehören, bloß physische seyn.
Sogar den Tod empfinden eigentlich die Thiere nicht: erst bei seinem Eintritt könnten sie ihn kennen lernen; aber dann sind sie schon nicht mehr.
So ist denn das Leben des Thieres eine fortgesetzte Gegenwart. Es lebt dahin ohne Besinnung und geht stets ganz in der Gegenwart auf: selbst der große Haufen der Menschen lebt mit sehr geringer Besinnung.
Eine andere Folge der dargelegten Beschaffenheit des Intellekts der Thiere ist der genaue Zusammenhang ihres Bewußtseyns mit ihrer Umgebung. Zwischen dem Thiere und der Außenwelt steht nichts: zwischen uns und dieser stehn aber immer noch unsere Gedanken über dieselbe, und machen oft uns ihr, oft sie uns unzugänglich. Nur bei Kindern und sehr rohen Menschen wird diese Vormauer bisweilen so dünn, daß um zu wissen, was in ihnen vorgeht, man nur zu sehn braucht, was um[74] sie vorgeht.
Daher auch sind die Thiere weder des Vorsatzes, noch der Verstellung fähig: sie haben nichts im Hinterhalt. In dieser Hinsicht verhält sich der Hund zum Menschen, wie ein gläserner zu einem metallenen Becher, und dies trägt viel bei ihn uns so werth zu machen: denn es gewährt uns ein großes Ergötzen, alle unsere Neigungen und Affekte, die wir so oft verhehlen, in ihm bloß und baar zu Tage gelegt zu sehn.
Ueberhaupt spielen die Thiere gleichsam stets mit offen hingelegten Karten: daher sehn wir mit so vielem Vergnügen ihrem Thun und Treiben unter einander zu, sowohl wenn sie der selben, wie wenn sie verschiedenen Species angehören. Ein gewisses Gepräge von Unschuld charakterisirt dasselbe, im Gegensatz des menschlichen Thuns, als welches, durch den Eintritt der Vernunft, und mit ihr der Besonnenheit, der Unschuld der Natur entrückt ist. Dafür aber hat es durchweg das Gepräge der Vorsätzlichkeit, deren Abwesenheit, und mithin das Bestimmtwerden durch den augenblicklichen Impuls, den Grundcharakter alles thierischen Thuns ausmacht.
Eines eigentlichen Vorsatzes nämlich ist kein Thier fähig; ihn zu fassen und zu befolgen ist das Vorrecht des Menschen, und ein höchst folgenreiches. Zwar kann ein Instinkt, wie der der Zugvögel, oder der der Bienen, ferner auch ein bleibender, anhaltender Wunsch, eine Sehnsucht, wie die des Hundes nach seinem abwesenden Herrn, den Schein des Vorsatzes hervorbringen, ist jedoch mit diesem nicht zu verwechseln. –
Alles Dieses nun hat seinen letzten Grund in dem Verhältniß zwischen dem menschlichen und dem thierischen Intellekt, welches sich auch so ausdrücken läßt: die Thiere haben bloß eine unmittelbare Erkenntniß, wir neben dieser auch eine mittelbare; und der Vorzug, den in manchen Dingen, z.B. in der Trigonometrie und Analysis, im Wirken durch Maschinen statt durch Handarbeit u.s.w., das Mittelbare vor dem Unmittelbaren hat, findet auch hier Statt.
Diesemnach wieder kann man sagen: die Thiere haben bloß einen einfachen Intellekt, wir einen doppelten; nämlich neben dem anschauenden noch den denkenden; und die Operationen beider gehn oft unabhängig von einander vor sich: wir schauen Eines an und denken an ein Anderes; oft wiederum greifen sie in einander.
Diese Bezeichnung der Sache macht die oben erwähnte wesentliche Offenheit und Naivetät der Thiere, im Gegensatz der menschlichen Verstecktheit, besonders begreiflich.“
Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II