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Gegenwart und Vergangenheit

„Das Bewußtseyn der Thiere ist demnach eine bloße Succession von Gegenwarten, deren jede aber nicht vor ihrem Eintritt als Zukunft, noch nach ihrem Verschwinden als Vergangenheit dasteht; als welches das Auszeichnende des menschlichen Bewußtseyns ist.

Daher eben haben die Thiere auch unendlich weniger zu leiden, als wir, weil sie keine andern Schmerzen kennen, als die, welche die Gegenwart unmittelbar herbeiführt.

Die Gegenwart ist aber ausdehnungslos; hingegen Zukunft und Vergangenheit, welche die meisten Ursachen unserer Leiden enthalten, sind weit ausgedehnt, und zu ihrem wirklichen Inhalt kommt noch der bloß mögliche, wodurch dem Wunsch und der Furcht sich ein unabsehbares Feld öffnet: von diesen hingegen ungestört genießen die Thiere jede auch nur erträgliche Gegenwart ruhig und heiter.

Sehr beschränkte Menschen mögen ihnen hierin nahe kommen. Ferner können die Leiden, welche rein der Gegenwart angehören, bloß physische seyn.

Sogar den Tod empfinden eigentlich die Thiere nicht: erst bei seinem Eintritt könnten sie ihn kennen lernen; aber dann sind sie schon nicht mehr.

So ist denn das Leben des Thieres eine fortgesetzte Gegenwart. Es lebt dahin ohne Besinnung und geht stets ganz in der Gegenwart auf: selbst der große Haufen der Menschen lebt mit sehr geringer Besinnung.

Eine andere Folge der dargelegten Beschaffenheit des Intellekts der Thiere ist der genaue Zusammenhang ihres Bewußtseyns mit ihrer Umgebung. Zwischen dem Thiere und der Außenwelt steht nichts: zwischen uns und dieser stehn aber immer noch unsere Gedanken über dieselbe, und machen oft uns ihr, oft sie uns unzugänglich. Nur bei Kindern und sehr rohen Menschen wird diese Vormauer bisweilen so dünn, daß um zu wissen, was in ihnen vorgeht, man nur zu sehn braucht, was um[74] sie vorgeht.

Daher auch sind die Thiere weder des Vorsatzes, noch der Verstellung fähig: sie haben nichts im Hinterhalt. In dieser Hinsicht verhält sich der Hund zum Menschen, wie ein gläserner zu einem metallenen Becher, und dies trägt viel bei ihn uns so werth zu machen: denn es gewährt uns ein großes Ergötzen, alle unsere Neigungen und Affekte, die wir so oft verhehlen, in ihm bloß und baar zu Tage gelegt zu sehn.

Ueberhaupt spielen die Thiere gleichsam stets mit offen hingelegten Karten: daher sehn wir mit so vielem Vergnügen ihrem Thun und Treiben unter einander zu, sowohl wenn sie der selben, wie wenn sie verschiedenen Species angehören. Ein gewisses Gepräge von Unschuld charakterisirt dasselbe, im Gegensatz des menschlichen Thuns, als welches, durch den Eintritt der Vernunft, und mit ihr der Besonnenheit, der Unschuld der Natur entrückt ist. Dafür aber hat es durchweg das Gepräge der Vorsätzlichkeit, deren Abwesenheit, und mithin das Bestimmtwerden durch den augenblicklichen Impuls, den Grundcharakter alles thierischen Thuns ausmacht.

Eines eigentlichen Vorsatzes nämlich ist kein Thier fähig; ihn zu fassen und zu befolgen ist das Vorrecht des Menschen, und ein höchst folgenreiches. Zwar kann ein Instinkt, wie der der Zugvögel, oder der der Bienen, ferner auch ein bleibender, anhaltender Wunsch, eine Sehnsucht, wie die des Hundes nach seinem abwesenden Herrn, den Schein des Vorsatzes hervorbringen, ist jedoch mit diesem nicht zu verwechseln. –

Alles Dieses nun hat seinen letzten Grund in dem Verhältniß zwischen dem menschlichen und dem thierischen Intellekt, welches sich auch so ausdrücken läßt: die Thiere haben bloß eine unmittelbare Erkenntniß, wir neben dieser auch eine mittelbare; und der Vorzug, den in manchen Dingen, z.B. in der Trigonometrie und Analysis, im Wirken durch Maschinen statt durch Handarbeit u.s.w., das Mittelbare vor dem Unmittelbaren hat, findet auch hier Statt.

Diesemnach wieder kann man sagen: die Thiere haben bloß einen einfachen Intellekt, wir einen doppelten; nämlich neben dem anschauenden noch den denkenden; und die Operationen beider gehn oft unabhängig von einander vor sich: wir schauen Eines an und denken an ein Anderes; oft wiederum greifen sie in einander.

Diese Bezeichnung der Sache macht die oben erwähnte wesentliche Offenheit und Naivetät der Thiere, im Gegensatz der menschlichen Verstecktheit, besonders begreiflich.“

Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II

 

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Erinnerung und Bewußtsein

„Die vollkommene Besonnenheit nämlich beruht auf dem deutlichen Bewußtseyn der Vergangenheit und der eventuellen Zukunft als solcher und im Zusammenhange mit der Gegenwart.

Das hiezu erforderte eigentliche Gedächtniß ist daher eine geordnete, zusammenhängende, denkende Rückerinnerung:[72] eine solche aber ist nur möglich mittelst allgemeiner Begriffe, deren Hülfe sogar das ganz Individuelle bedarf, um in seiner Ordnung und Verkettung zurückgerufen zu werden.

Denn die unübersehbare Menge gleichartiger und ähnlicher Dinge und Begebenheiten, in unserm Lebenslauf, läßt nicht unmittelbar eine anschauliche und individuelle Rückerinnerung jedes Einzelnen zu, als für welche weder die Kräfte der umfassendesten Erinnerungsfähigkeit, noch unsere Zeit ausreichen würde: daher kann dies Alles nur aufbewahrt werden mittelst Subsumtion unter allgemeine Begriffe und daraus entstehende Zurückführung auf verhältnißmäßig wenige Sätze, mittelst welcher wir sodann eine geordnete und genügende Uebersicht unserer Vergangenheit beständig zu Gebote haben.

Bloß einzelne Scenen der Vergangenheit können wir uns anschaulich vergegenwärtigen; aber der seitdem verflossenen Zeit und ihres Inhalts sind wir uns bloß in abstracto bewußt, mittelst Begriffen von Dingen und Zahlen, welche nun Tage und Jahre, nebst deren Inhalt, vertreten.

Das Erinnerungsvermögen der Thiere hingegen ist, wie ihr gesammter Intellekt, auf das Anschauliche beschränkt und besteht zunächst bloß darin, daß ein wiederkehrender Eindruck sich als bereits dagewesen ankündigt, indem die gegenwärtige Anschauung die Spur einer frühem auffrischt: ihre Erinnerung ist daher stets durch das jetzt wirklich Gegenwärtige vermittelt.

Dieses regt aber eben deshalb die Empfindung und Stimmung, welche die frühere Erscheinung hervorgebracht hatte, wieder an. Demnach erkennt der Hund die Bekannten, unterscheidet Freunde und Feinde, findet den ein Mal zurückgelegten Weg, die schon besuchten Häuser, leicht wieder, und wird durch den Anblick des Tellers, oder den des Stocks, sogleich in die entsprechende Stimmung versetzt.

Auf der Benutzung dieses anschauenden Erinnerungsvermögens und der bei den Thieren überaus starken Macht der Gewohnheit beruhen alle Arten der Abrichtung: diese ist daher von der menschlichen Erziehung gerade so verschieden, wie Anschauen von Denken.

Auch wir sind, in einzelnen Fällen, wo das eigentliche Gedächtniß seinen Dienst versagt, auf jene bloß anschauende Rückerinnerung beschränkt, wodurch wir den Unterschied Beider aus eigener Erfahrung ermessen können; z.B. beim Anblick einer Person, die uns bekannt vorkommt, ohne daß wir uns erinnern, wann und wo wir sie gesehn haben; desgleichen, wann wir einen[73] Ort betreten, an welchem wir in früher Kindheit, also bei noch unentwickelter Vernunft, gewesen, solches daher ganz vergessen haben, jetzt aber doch den Eindruck des Gegenwärtigen als eines bereits Dagewesenen empfinden. Dieser Art sind alle Erinnerungen der Thiere.“

Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II

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Vorhersagen

„Erstens: Wie jeder weiß, sind Vorhersagen extrem schwierig und liegen oft daneben. Nicht selten mit katastrophalen Folgen – wie im Jahr 1914, als Staatsmänner und Soldaten einen kurzen und leichten Krieg vorhersagten („Ihr werdet zu Hause sein, bevor die Blätter von den Bäumen fallen“, sagte der Kaiser zu seinen Soldaten), sich aber im bis dahin größten und tödlichsten bewaffneten Konflikt der Geschichte wiederfanden.

Und zweitens sind die Methoden, die wir heute verwenden – Fragebögen unter Experten (die sogenannte Delphi-Methode), mathematische Modelle, künstliche Intelligenz usw. – nicht besser als die, die die Menschen vor Tausenden von Jahren verwendeten. Dazu gehören die Astrologie (Babylon), das Manipulieren von Schafgarbenstängeln (China), das Beobachten von Vögeln und das Befragen von Orakeln (Griechenland), das Lesen der Eingeweide von Opfertieren (Rom), das Deuten von Träumen (in allen bekannten Zivilisationen) und so weiter.

Ich bin Historiker, und die Leser werden mir hoffentlich nachsehen, dass ich mich auf historische Methoden stütze, vor allem auf Analogien auf der einen und Trends auf der anderen Seite.“

Martin van Creveld, welt.de 25.2.2022

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Geschichte und Philosophie

„Während die Geschichte uns lehrt, daß zu jeder Zeit etwas Anderes gewesen, ist die Philosophie bemüht, uns zu der Einsicht zu verhelfen, daß zu allen Zeiten ganz das Selbe war, ist und seyn wird. In Wahrheit ist das Wesen des Menschenlebens, wie der Natur überall, in jeder Gegenwart ganz vorhanden, und bedarf daher, um erschöpfend erkannt zu werden, nur der Tiefe der Auffassung. Die Geschichte aber hofft die Tiefe durch die Länge und Breite zu ersetzen: ihr ist jede Gegenwart nur ein Bruchstück, welches ergänzt werden muß durch die Vergangenheit, deren Länge aber unendlich ist und an die sich wieder eine unendliche Zukunft schließt. Hierauf beruht das Widerspiel zwischen den philosophischen und den historischen Köpfen: jene wollen ergründen; diese wollen zu Ende zählen. Die Geschichte zeigt auf jeder Seite nur das Selbe, unter verschiedenen Formen: wer aber solches nicht in einer oder wenigen erkennt, wird auch durch das Durchlaufen aller Formen schwerlich zur Erkenntniß davon gelangen. Die Kapitel der Völkergeschichte sind im Grunde nur durch die Namen und Jahreszahlen verschieden: der eigentlich wesentliche Inhalt ist überall der selbe.“

 

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Sie nannten es Arbeit. Eine andere Geschichte der Menschheit von James Suzman

„Auch Michelle gilt meine Liebe und mein Dank – für alles, nicht zuletzt für deine magische Gabe, einige der sperrigen Ideen dieses Buches in eine wunderbare Bildsprache zu übersetzen.“

Diese Worte aus dem Anhang geben die Richtung dieses Buches vor. „Sie nannten es Arbeit. Eine andere Geschichte der Menschheit von James Suzman“ weiterlesen

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Die Geschichte der Fotografie von Paul Lowe

„Da es in diesem Buch um Fotografie und nicht um Geschichte geht, wurden viele berühmte Bilder nicht aufgenommen, die uns weniger über das Medium als über die Situation erzählen.“ Mit diesem Ansatz hat Paul Lowe ein Buch erstellt, das uns nun wirklich viel über die Fotografie und ihre Geschichte erzählt.

Es entstand ein Buch das textlich und visuell eine wahre Wonne ist.  „Die Geschichte der Fotografie von Paul Lowe“ weiterlesen

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Zeuge Waldeck. Das erfundene Leben des Rolf vom Busch von Viola Meike und Sarah Baldy

Das Leben schreibt die besten Geschichten. Rolf vom Busch aus Remscheid war ein Mann, der als Sexualmörder verurteilt wurde, weil er seinem Sexpartner die Kehle durchschnitt und die Hoden abtrennte. Dafür wurde er später „entmannt“.

Damit nicht genug behauptete er, mit Hitler im Hotel Kaiserhof Sex gehabt zu haben. „Zeuge Waldeck. Das erfundene Leben des Rolf vom Busch von Viola Meike und Sarah Baldy“ weiterlesen

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Bilder einer Diktatur. Zur Visual History des „Dritten Reiches“ von Gerhard Paul

„Das faschistische Bild erweist sich als dominant gegenüber dem Bild des Faschismus“ Mit diesem Zitat von Georg Seeßlen problematisiert Gerhard Paul in der Einleitung seines großartigen Buches „Bilder einer Diktatur“ das Problem unserer Bilder im Kopf und der Realität der Welt. Denn die Bilder der Nazizeit, die wir im Kopf haben, sind oft von Nazis gemacht wurden und zeigen, was wir sehen und behalten sollen. „Bilder einer Diktatur. Zur Visual History des „Dritten Reiches“ von Gerhard Paul“ weiterlesen

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Michel Onfray, Wir brauchen keinen Gott

„Das Alte Testament kommt auf rund 3500 Seiten, das Neue Testament auf rund 900 Seiten und der Koran auf rund 750 Seiten… Alle drei grundlegenden Bücher sind voller Widersprüche. Jede Aussage wird oft noch im gleichen Atemzug wieder zurückgenommen… Jude, Christ oder Muslim – jeder schöpft nach seinem Belieben aus der Thora, den Evangelien oder dem Koran und findet dort nach Bedarf, was er braucht…. „Michel Onfray, Wir brauchen keinen Gott“ weiterlesen

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Die Russenbäume von Naumburg

Die DDR ist schon mehr als 30 Jahre vorbei und die russische Besatzung auch. Langsam verlieren sich auch die Zeichen der Menschen aus dieser Zeit.

In Naumburg an der Saale gab es eine große militärische Siedlung, die schon zu Zeiten der Wehrmacht existierte und dann von den russischen Soldaten genutzt wurde. Naumburg war schon früher Garnisonsstadt. „Die Russenbäume von Naumburg“ weiterlesen

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Magnus Brechtken, Der Wert der Geschichte. Zehn Lektionen für die Gegenwart

„Wenn ein Busfahrer dieselbe Steuer zahlen musste wie der millionenschwere Unternehmer, war das in Ordnung, denn es stand dem Busfahrer ja frei, selbst Millionär zu werden! Hier liegt das Problem des Siegeszuges jener Vorstellungen, die seit den 1980er Jahren als Neoliberalismus bekannt sind und bis in unsere Gegenwart wirken. Die Dynamik des Wandels und die entsprechenden Folgen für die Lebenschancen des Einzelnen wurden regelmäßig ignoriert… Deshalb ist die ordnende Struktur von Staat, Gesellschaft und Solidargemeinschaft unverzichtbar.“

Diese Gedanken stehen auf Seite 218 des Buches von dem Historiker Magnus Brechtken. „Magnus Brechtken, Der Wert der Geschichte. Zehn Lektionen für die Gegenwart“ weiterlesen

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Über die Natur des Menschen

„Oft schon wurde festgestellt, daß drei wichtige geistige Umwälzungen die Idee von der zentralen Stellung des Menschen bedroht haben. Als Erster demonstrierte Kopernikus, dass die Erde nicht der Mittelpunkt ist, um den sich alle anderen Himmelskörper drehen. Als Nächster zeigte uns Darwin, dass wir keine zentrale Rolle in der Kette der Evolution spielen, sondern wie alle anderen Geschöpfe aus anderen Lebensformen entstanden sind. Und drittens erklärte uns Freud, daß wir in unserem eigenen Hause nicht die Herren sind – ein Großteil unseres Verhaltens werde von Kräften ausserhalb unseres Bewusstseins beherrscht. Es besteht kein Zweifel daran, dass Freuds verkannter Mitrevolutionär Arthur Schopenhauer war, der schon lange vor Freuds Geburt postulierte, dass wir von tiefgreifenden biologischen Mächten gesteuert werden und uns dann einbilden, wir hätten unser Schicksal bewusst gewählt.“

David Yalom

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Über Kirche, Religion und Moral

„Der Christ war bisher das »moralische Wesen«, ein Kuriosum ohnegleichen – und, als »moralisches Wesen«, absurder, verlogner, eitler, leichtfertiger, sich selber nachteiliger als auch der größte Verächter der Menschheit es sich träumen lassen könnte. Die christliche Moral – die bösartigste Form des Willens zur Lüge, die eigentliche Circe der Menschheit: das, was sie verdorben hat. Es ist nicht der Irrtum als Irrtum, was mich bei diesem Anblick entsetzt, nicht der jahrtausendelange Mangel an »gutem Willen«, an Zucht, an Anstand, an Tapferkeit im Geistigen, der sich in seinem Sieg verrät – es ist der Mangel an Natur, es ist der vollkommen schauerliche Tatbestand, daß die Widernatur selbst als Moral die höchsten Ehren empfing und als Gesetz, als kategorischer Imperativ, über der Menschheit hängen blieb!… In diesem Maße sich vergreifen, nicht als einzelner, nicht als Volk, sondern als Menschheit!… Daß man die allerersten Instinkte des Lebens verachten lehrte; daß man eine »Seele«, einen »Geist« erlog, um den Leib zuschanden zu machen; daß man in der Voraussetzung des Lebens, in der Geschlechtlichkeit, etwas Unreines empfinden lehrt; daß man in der tiefsten Notwendigkeit zum Gedeihen, in der strengen Selbstsucht (– das Wort schon ist verleumderisch! –) das böse Prinzip sucht; daß man umgekehrt in den typischen Abzeichen des Niedergangs und der Instinkt-Widersprüchlichkeit, im »Selbstlosen«, im Verlust an Schwergewicht,[1157] in der »Entpersönlichung« und »Nächstenliebe« (– Nächstensucht!) den höheren Wert, was sage ich! den Wert an sich sieht!… Wie! wäre die Menschheit selber in décadence? war sie es immer? – Was feststeht, ist, daß ihr nur Décadence-Werte als oberste Werte gelehrt worden sind. Die Entselbstungs-Moral ist die Niedergangs-Moral par excellence, die Tatsache, »ich gehe zugrunde« in den Imperativ übersetzt: »ihr sollt alle zugrunde gehn« – und nicht nur in den Imperativ!… Diese einzige Moral, die bisher gelehrt worden ist, die Entselbstungs-Moral, verrät einen Willen zum Ende, sie verneint im untersten Grunde das Leben. – Hier bliebe die Möglichkeit offen, daß nicht die Menschheit in Entartung sei, sondern nur jene parasitische Art Mensch, die des Priesters, die mit der Moral sich zu ihren Wert-Bestimmern emporgelogen hat – die in der christlichen Moral ihr Mittel zur Macht erriet… Und in der Tat, das ist meine Einsicht: die Lehrer, die Führer der Menschheit, Theologen insgesamt, waren insgesamt auch décadents: daher die Umwertung aller Werte ins Lebensfeindliche, daher die Moral… Definition der Moral: Moral – die Idiosynkrasie von décadents, mit der Hinterabsicht, sich am Leben zu rächen – und mit Erfolg. Ich lege Wert auf diese Definition. – …

Der Blitz der Wahrheit traf gerade das, was bisher am höchsten stand: wer begreift, was da vernichtet wurde, mag zusehn, ob er überhaupt noch etwas in den Händen hat. Alles, was bisher »Wahrheit« hieß, ist als die schädlichste, tückischste, unterirdischste Form der Lüge erkannt; der heilige Vorwand, die Menschheit zu »verbessern«, als die List, das Leben selbst auszusaugen, blutarm zu machen. Moral als Vampyrismus… Wer die Moral entdeckt, hat den Unwert aller Werte mit entdeckt, an die man glaubt oder geglaubt hat; er sieht in den verehrtesten, in den selbst heilig gesprochnen Typen des Menschen nichts[1158] Ehrwürdiges mehr, er sieht die verhängnisvollste Art von Mißgeburten darin, verhängnisvoll, weil sie faszinierten… Der Begriff »Gott« erfunden als Gegensatz-Begriff zum Leben – in ihm alles Schädliche, Vergiftende, Verleumderische, die ganze Todfeindschaft gegen das Leben in eine entsetzliche Einheit gebracht! Der Begriff »Jenseits«, »wahre Welt« erfunden, um die einzige Welt zu entwerten, die es gibt – um kein Ziel, keine Vernunft, keine Aufgabe für unsre Erden-Realität übrigzubehalten? Der Begriff »Seele«, »Geist«, zuletzt gar noch »unsterbliche Seele«, erfunden, um den Leib zu verachten, um ihn krank – »heilig« – zu machen, um allen Dingen, die Ernst im Leben verdienen, den Fragen von Nahrung, Wohnung, geistiger Diät, Krankenbehandlung, Reinlichkeit, Wetter, einen schauerlichen Leichtsinn entgegenzubringen! Statt der Gesundheit das »Heil der Seele« – will sagen eine folie circulaire zwischen Bußkrampf und Erlösungs-Hysterie! Der Begriff »Sünde« erfunden samt dem zugehörigen Folter-Instrument, dem Begriff »freier Wille«, um die Instinkte zu verwirren, um das Mißtrauen gegen die Instinkte zur zweiten Natur zu machen! Im Begriff des »Selbstlosen«, des »Sich-selbst-Verleugnenden« das eigentliche décadence-Abzeichen, das Gelocktwerden vom Schädlichen, das Seinen-Nutzen-nicht-mehr-finden- Können«, die Selbst-Zerstörung zum Wertzeichen überhaupt gemacht, zur »Pflicht«, zur »Heiligkeit«, zum »Göttlichen« im Menschen! Endlich – es ist das Furchtbarste – im Begriff des guten Menschen die Partei alles Schwachen, Kranken, Mißratnen, An-sich-selber-Leidenden genommen, alles dessen, was zugrunde gehn soll-, das Gesetz der Selektion gekreuzt, ein Ideal aus dem Widerspruch gegen den stolzen und wohlgeratenen, gegen den jasagenden, gegen den zukunftsgewissen, zukunftverbürgenden Menschen gemacht – dieser heißt nunmehr der Böse… Und das alles wurde geglaubt als Moral!“

Aus Nietzsche Ecce Homo

Aber was ist die Natur des Menschen? Hilfreich ist es hier zu lesen, denn die Freiheit, die dadurch entsteht, führte z.B. zur Weltanschauung der Nazis. Die Demokratie wurde aus der Natur des Menschen entwickelt, um der Natur des Menschen einen Rahmen zu geben, damit alle miteinander leben können. Das ist vernünftig.

 

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Über Bücher

Ich nehme als Gleichnis den Verkehr mit Büchern. Der Gelehrte, der im Grunde nur noch Bücher »wälzt« – der Philologe mit mäßigem Ansatz des Tags ungefähr 200 – verliert zuletzt ganz und gar das Vermögen, von sich aus zu denken. Wälzt er nicht, so denkt er nicht. Er antwortet auf einen Reiz (– einen gelesenen Gedanken), wenn er denkt – er reagiert zuletzt bloß noch. Der Gelehrte gibt seine ganze Kraft im Ja- und Neinsagen, in der Kritik von bereits Gedachtem ab – er selber denkt nicht mehr… Der Instinkt der Selbstverteidigung ist bei ihm mürbe geworden; im anderen Falle würde er sich gegen Bücher wehren.

Nietzsche, Ecce Homo

 

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Candide oder die beste aller Welten von Voltaire

„Endlich hatte die Fehd‘ ein Ende; die beiden Könige ließen das Te Deum in ihren Lagern anstimmen. Derweil faßte unser Kandide den Entschluß, in andern Gegenden über Wirkungen und Ursachen zu philosophieren; stieg über die Haufen der Toten und Sterbenden weg und arbeitete sich in einen nahbelegnen Aschenhaufen vom Dorfe herein. Es hatte vor kurzem den Abaren gehört, und die Bulgaren hatten es dem Völkerrechte gemäß abgebrannt. Greise lagen hier, die Wund‘ an Wunde hatten und neben sich ihre zermetzelten Weiber mußten hinsterben sehn, an deren blutenden Brüsten ihre Säuglinge zappelten; dort gaben Jungfrauen ihren Geist auf, deren jegliche einem Halbdutzend Helden ihre Naturbedürfnisse hatte stillen müssen und nachher war entbaucht worden; hier schrien andre, deren Leichnam halbverbrannt war: man möcht‘ ihnen nur den Rest geben. Die ganze Erde war mit Gehirnen übersät und mit Armen und Beinen.“

Damit sind wir in der besten aller möglichen Welten angekommen. „Candide oder die beste aller Welten von Voltaire“ weiterlesen