Veröffentlicht in Essay

Nietzsche und die Folgen von Andreas Urs Sommer

Nietzsche hat sich ausprobiert, er war kein Einheitsdenker. Weil er vielfältig und experimentell schrieb, ist er für alles und jeden bis heute ein Vorbild geworden. 

„Eine der berühmtesten Textstellen des „Zarathustra“ ist das Gleichnis von den drei Verwandlungen. Dieses Bild wirft ein bezeichnendes Licht auf Nietzsches Verständnis des Übermenschen. Drei Verwandlungen muss der menschliche Geist durchlaufen, sagt Zarathustra. Seine erste Erscheinung ist die des Kamels. Als Kamel verlangt der Geist nach der Schwere, er kniet nieder und will beladen werden. Als Kamel ist der Geist bereit zur Ehrfurcht und er ist bereit sich zu erniedrigen. Aus dem Kamel verwandelt sich der Geist in den Löwen. Der Geist des Löwen steht für das Aufbegehren. Der Löwe erkämpft sich seine Freiheit von Gott, von der Moral und der Metaphysik. Stand das Kamel unter dem Prinzip „Du sollst“ so lautet das Motto des Löwen: „Ich will“. Der Gedanke liegt nahe, dass Nietzsche damit sich selber meint. Steht also der Geist des Löwen für den Übermenschen? Nein. Nietzsche sagt, dass der Geist noch eine dritte Verwandlung durchlaufen muss. Der Geist muss zum Kind werden, zum unschuldig spielenden Kind, das im Spiel neue Werte entwirft. Es ist nicht die Freiheit des kämpfenden Löwen, sondern die Freiheit des spielenden Kindes, die für die schöpferische Haltung des Übermenschen steht. Hat der Geist als Kind auch ein Prinzip? Ja, es lautet „Ich bin“. Die Unschuld des Spiels steht für die völlige Bejahung seines irdischen Daseins. Das Bild des spielenden Kindes ist eines der stärksten, die Nietzsche gefunden hat. In diesem Bild fallen unbeschwertes Spiel und Unschuld jenseits von Gut und Böse zusammen. Das Kind steht für einen völligen Neuanfang. Das wichtigste Thema Zarathustras ist die Lehre von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen. … Die ewige Wiederkehr des Gleichen wird ausdrücklich als Mythos, als Bild eingeführt. Nietzsche meint die Idee von der ewigen Wiederkehr des Gleichen als ein Gedankenexperiment. Es wird eine Haltung formuliert und in ein griffiges Bild gebracht. Betrachten wir die Welt so, als würde sie sich ewig im Kreis drehen, als würde sie zu keinem Ziel führen. Dies ist ein Gegenmodell zum Mythos von der Heilsgeschichte, die ja auch nur ein Bild ist. Das Bild von der ewigen Wiederkehr wird formuliert als der größte Ausdruck von Sinnlosigkeit, der überhaupt nur denkbar ist. Wenn sich alles nur immer wiederholt, dann hat doch das Ganze keinen Sinn. Und Nietzsches Antwort lautet: So ist es, das Ganze hat keinen Sinn. Es gibt keinen äußerlichen Sinn. Aber jeder einzelne Moment hat Sinn, nämlich den Sinn, den Sie ihm geben, indem Sie ihn bewusst als ewigen Augenblick betrachten. Die Sinnlosigkeit wird akzeptiert und gleichzeitig bejaht. Und derjenige, der diesen Gedanken in allen seinen Konsequenzen ertragen und gut heißen kann, ist der Übermensch.“

So schreibt es Siegfried König in seiner Einleitung zu Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke.

Natürlich ist auch dies eine Deutung, aber ich finde, es ist eine gute Deutung, weil sie den Mensch verurteilt, frei zu sein.

Ich habe mich an Nietzsche getraut, nachdem er mir viele Jahre als Nazi verkauft wurde, der mit Schuld war an der Ausrottung der Juden, weil die Nazis ja den Übermenschen nach Nietzsche formen wollten. So ähnlich begleitete mich dies alles in meiner Schulzeit und während meines Studiums. Und als zum Gehorsam geformter Mensch habe ich das auch geglaubt.

Heute weiß ich mehr und glaube weniger. Als ich mir die Kindle Ausgabe von Friedrich Nietzsche kaufte, führte mich das Vorwort von Siegfried König in ein nicht enden wollendes Reich von Geist, Gefühl und Leben auf Papier. Herr König schaffte es in seiner Einleitung alle meine mir eingesetzten Vor-urteile auszuräumen und die Tür für Nietzsche aufzumachen.

Was für ein vielseitiger und großartiger Schriftsteller dabei zum Vorschein kam, ist kaum auszudrücken. Besonders beeindruckt war ich dann als ich das las, was ich selbst immer erlebt hatte: wie das Christentum (eine Religion) mich mental einlullte. Ich fand bei Nietzsche genau die Umwertung und nackte Wahrheit, die ich in mir spürte aber nicht ausdrücken konnte.  Und Mißbrauchsskandal oder Kirche als Stellvertreter der weltlichen Macht sind ja bis heute präsent, so dass Nietzsche in seiner nicht exakt festgelegten Art durch Aphorismen und deutbare Begriffe ein großes Repertoir zur eigenen Deutung und zum eigenen Denken bietet.

Warum schreibe ich dies alles, wenn ich doch über ein ganz anderes Buch schreiben will? Damit man versteht, wieso ich über Nietzsche und die Folgen schreiben will.

Ohne Nietzsche selbst zu lesen wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dieses Buch zu kaufen. Und nun stelle ich fest, daß es ein kleines Juwel ist, welches die vielen Fragen beantwortet und die Hintergründe darstellt, die mich interessieren.

Wenn man Andreas Urs Sommer liest nachdem man einzelne Werke von Nietzsche bis zum Ecce Homo gelesen hat, dann gelingt eine wunderbare Einordnung. Plötzlich versteht man mehr. Sommer beschreibt erst sehr anschaulich die Entstehung der Werke, die ausbleibende Resonanz und den inneren Kampf von Nietzsche anhand von Briefen und Erzählungen.

Und dann schildert er wie sein Werk von seiner Familie zweckentfremdet, verfälscht und monetarisiert wurde.

Das Thema „Übermensch“ in vielfacher Form steht dabei natürlich über allem. Wenn Andreas Urs Sommer dann aber schildert wie groß die Resonanz war und wie Nietzsche ein echter Kult im Kopf fast der gesamten euopäischen Zivilisation wurde, dann wird deutlich daß er eben mehr bot und bietet als uns heute medial zugemüllt zugemutet wird.

Nietzsche wird bis heute für schmutzigste Verbrechen jeder Art als Begründung hinzugezogen. Nicht nur die Nazis sondern auch heutige Massenmörder wie Anders Brevik und andere Verschwörer beziehen sich ebenso auf ihn wie Islamisten, weil Nietzsche die Religionen ablehnte als Erfindung der Mächtigen gegen die Menschen.

Es gibt kaum einen Philosophen, der so abgelehnt wird wie Nietzsche, selbst von Philosophen. Wie schreibt Sommer: „Von Nietzsche geht ersichtlich ein starker Drank zur Entakademisierung von Philosophie, damit freilich auch zu ihrer Pluralisierung aus.“

Das Buch ist dicht geschrieben und sehr informativ, teilweise spannend.

Andreas Urs Sommer,

Nietzsche und die Folgen,

J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 2017, ISBN978-3-476-02654-5

Es gibt zu diesem Thema ein gutes Video für die, die noch mehr wissen wollen.