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Geschichtslosigkeit und Gegenwart

„Was die Vernunft dem Individuo, das ist die Geschichte dem menschlichen Geschlechte. Vermöge der Vernunft nämlich ist der Mensch nicht, wie das Thier, auf die enge, anschauliche Gegenwart beschränkt; sondern erkennt auch die ungleich ausgedehntere Vergangenheit, mit der sie verknüpft und aus der sie hervorgegangen ist: hiedurch aber erst hat er ein eigentliches Verständnis der Gegenwart selbst, und kann sogar auf die Zukunft Schlüsse machen. Hingegen das Thier, dessen reflexionslose Erkenntniß auf die Anschauung und deshalb auf die Gegenwart beschränkt ist, wandelt, auch wenn gezähmt, unkundig, dumpf, einfältig, hülflos und abhängig zwischen den Menschen umher.–Dem nun analog ist ein Volk, das seine eigene Geschichte nicht kennt, auf die Gegenwart der jetzt lebenden Generation beschränkt: daher versteht es sich selbst und seine eigene Gegenwart nicht; weil es sie nicht auf eine Vergangenheit zu beziehen und aus dieser zu erklären vermag; noch weniger kann es die Zukunft anticipiren. Erst durch die Geschichte wird ein Volk sich seiner selbst vollständig bewußt.“

Arthur Schopenhauer