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Die Front der kleinen Leute: Das Auge des Arbeiters und die Arbeiterfotografie

Die Arbeiterfotografie ist gestorben, die Probleme sind geblieben, dachte ich so bei mir.

Die Konzeption und die Ausstellung „Das Auge des Arbeiters“ sind sehr beeindruckend.

Die städtischen Kunstsammlungen Zwickau sind bzw. waren ein beeindruckender Rahmen für diese Ausstellung. Zwickau ist eben ein besonderer Ort, der immer wieder besonderes zu bieten hat.

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Hat es überhaupt seit der deutschen Einheit eine so gute Ausstellung zur Geschichte der Arbeiterfotografie gegeben?

Was hier mit Sachverstand und Glück und dem Willen zur digitalen Dokumentation als Teil der deutschen Geschichte dargestellt wurde, wird zumindest in die Annalen der guten Ausstellungen eingehen.

Die Ausstellung „Das Auge des Arbeiters“ war sehr beeindruckend. Ich fragte eine Dame nach ihren Eindrücken. Sie sagte mir, sie hätte rausgehen müssen, weil die Eindrücke zu stark waren. Daraus entwickelte sich ein sehr langes und fruchtbares Gespräch.

Gerade die Kombination mit den Gemälden der jungen Wilden zeigt paralleles Leben in einem gleichen Zeitabschnitt ohne miteinander vernetzt zu sein.

Die Ausstellung zeigt auch, wie sehr sich die Menschen mit Industriearbeit und Arbeitslosigkeit beschäftigten und wie die Armut und die Hoffnungslosigkeit das Gesicht der kleinen Leute prägte.

Beeindruckende thematische Anordnungen, starke Fotos in schwarzweiss, Themen, die bis heute wirken – alles dies zeigt diese einzigartige Ausstellung.

Wohl durchdachte Themenblöcke geben dem Besucher Einblicke in einen Bereich einer längst vergangenen Zeit.

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke

Ich war fasziniert von den Fotos, die von 1929 bis 1992 reichten.

Der Alltag und die Einzelschicksale, politische Kämpfe und ihre Folgen sind die Themen, die damals wie heute vorhanden sind aber heute von den meisten Menschen anders wahrgenommen werden.

1992 hört es in der Ausstellung fotografisch auf. Eine vielleicht sehr reale Sichtweise.

Denn die Selbstdarstellung der Arbeiterklasse wurde um 1930 zu einer Form der gesellschaftlichen Emanzipation.

Das Klassenbewußtsein, das „Wir“, ist heute weg: die gemeinsame Wohnwelt, Arbeitswelt und Sozialwelt.

Das Selfie als reine Ich-Wahrnehmung ist da.

Objektiv sind die sozialen Unterschiede aber vorhanden und sogar wieder stärker geworden.

„Klassenunterschiede“ gibt es noch, wenn auch anders ausgedrückt und ohne gemeinsames Bewusstsein als materiell vorhandene soziale Unterschiede von Schichten, Lebensverhältnissen, Chancen.

Die Ausstellung „Das Auge des Arbeiters“ ermöglicht gerade durch ihre klare Darstellung dessen, was die Künstler und Arbeiterfotografen um 1930 fotografierten, zeichneten und malten einen wunderbaren Spiegel der Geschichte, der die Gegenwart umso deutlicher werden läßt.

Früher war die Industriearbeiterschaft die stärkste Gruppe von Menschen, die zugleich ein produktiver Teil des Gemeinwesens war. Heute sind immer weniger Menschen für diese Arbeit erforderlich und zugleich leben immer mehr Menschen unterschiedlichster Kulturen mit verschiedenen Sprachen ohne Arbeit unter der Aufsicht der Jobcenter.

Die ungelösten Probleme der Zuwanderung, immer mehr Ältere ohne Arbeit und vor der Verarmung, entmutigende Widersprüche der Politik. Die Welt ist heute nicht besser: Errungenschaften wurden errungen und heute wieder verloren.

Spätestens bei der Frage, wie man heute Armut fotografiert, kommt man bei denselben Themen und fast identischen Fotos an.

Diese müssen aber durch andere Gesetze, neue technische Möglichkeiten und neue Vorgaben auch fotografisch neu beantwortet werden.

Die Ausstellung ermöglicht daher im besten Sinne Blicke zurück.

So sehen wir, was sich geändert hat und was geblieben ist.

Flugblatt-Collage Michael Mahlke
Flugblatt-Collage Michael Mahlke

Die Schminke ist anders, aber darunter sieht es noch genau so aus.

Die vielen neuen zivilisatorischen bunten Errungenschaften verdecken die Themen der Isolation, der technischen Kälte und der Kontaktarmut, die zu Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Trostlosigkeit führen.

Aber wer will schon die Wirklichkeit sehen und vor allem sich darüber klar werden, daß es schon einmal ähnlich bei uns war und die Zeit danach nicht alles besser werden ließ!

Denn genau dies zeigen die Fotos auch – wenn auch ungewollt.

Man merkt an den letzten Sätzen, daß ich die Ausstellung als sehr aktuell und sehr anregend für den Blick auf unsere Gesellschaft empfinde.

Zu der Ausstellung gibt es ein Buch mit einer solchen Fülle an guten Fotos und Aufsätzen, daß dieses Buch sicherlich zukünftig ein Fundament für dieses Thema sein wird.

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke

Die Ausstellung „Das Auge des Arbeiters“ zeigt starke sozialdokumentarische Fotografie und ist zugleich der beste Spiegel, um die Sinne zu schärfen für die Themen und Fotos, die heute fehlen.

Sie werden auch nicht mit Klassenbewußtsein entstehen, weil es diese Art des Zusammenhalts nicht mehr gibt.

Sie können aber entstehen aus sozialem Engagement und politischem Denken, das sich der Tradition engagierter Fotografie verpflichtet fühlt ohne ideologisch zu sein.

Das wäre dann das Neue in der Gegenwart.

Diese Ausstellung setzt konzeptionelle und fotografische Maßstäbe als Dokumentation und als Spiegel der Gegenwart durch den Blick in die Vergangenheit.

Man begibt sich nach der Ausstellung auf die Suche nach Motiven der neuen fotografischen Front von Armut und Verzweiflung in einer reichen Gesellschaft, die kalte Herzen und dicke Konten als Voraussetzung von Erfolg definiert wie eh und jeh.

Wer nach der Ausstellung den Schritt in die Gegenwart wagen will, der muß sich nur die Filme von Michael Glawogger anschauen und schon landet er/sie dort, wo die Ausstellung aufhört: in der aktuellen Darstellung des Mühsals der Arbeit und bei Verhältnissen, die Menschen ohne politisches Bewusstsein und ohne politische Aktivität mitverantworten. Man landet also mitten in der Politik, der Frage von Gesellschaft und dem Wert von Demokratie und den Voraussetzungen dafür.

Das Auge des Arbeiters wird in Zwickau, Köln und Dresden gezeigt.

Wer die Chance hat, sollte nicht verpassen, sie zu besuchen.