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Candide oder die beste aller Welten von Voltaire

„Endlich hatte die Fehd‘ ein Ende; die beiden Könige ließen das Te Deum in ihren Lagern anstimmen. Derweil faßte unser Kandide den Entschluß, in andern Gegenden über Wirkungen und Ursachen zu philosophieren; stieg über die Haufen der Toten und Sterbenden weg und arbeitete sich in einen nahbelegnen Aschenhaufen vom Dorfe herein. Es hatte vor kurzem den Abaren gehört, und die Bulgaren hatten es dem Völkerrechte gemäß abgebrannt. Greise lagen hier, die Wund‘ an Wunde hatten und neben sich ihre zermetzelten Weiber mußten hinsterben sehn, an deren blutenden Brüsten ihre Säuglinge zappelten; dort gaben Jungfrauen ihren Geist auf, deren jegliche einem Halbdutzend Helden ihre Naturbedürfnisse hatte stillen müssen und nachher war entbaucht worden; hier schrien andre, deren Leichnam halbverbrannt war: man möcht‘ ihnen nur den Rest geben. Die ganze Erde war mit Gehirnen übersät und mit Armen und Beinen.“

Damit sind wir in der besten aller möglichen Welten angekommen.

Der junge Candide oder Kandide wird aus dem Schloss verjagt, weil er mit der schönen Kunigunde erwischt wurde. Und nun muß er die Welt entdecken. In einem Wirtshaus wird er betrunken gemacht und wird leichte Beute als Soldat. Nach einigen Wirren trifft er seinen alten Lehrmeister wieder:

„Und Ihr kennt Euren lieben Panglos nicht mehr? sagte der eine Unglückliche zum andern Unglücklichen. „Was hör‘ ich? Sie sind’s, mein lieber Lehrer? Sind in solch gräßlich Elend gesunken? Wodurch das? Und weshalb nicht mehr in dem schönsten aller Schlösser? Was ist aus Baroneß Kunegunden geworden, der Perl‘ aller Mädchen, dem Meisterstücke der Natur?“ Mit mir ist’s aus, rief Panglos, und sank um. Alsbald schleppt‘ ihn Kandide in des Wiedertäufers Stall und gab ihm ein paar Bissen Brot, und als er sich wieder ein wenig erquickt hatte, fragt‘ er ihn: Nun, und Kunegunde? Ist tot, erwiderte jener. Bei diesen Worten sank Kandide in Ohnmacht; sein Freund brachte ihn mit einem paar Tropfen verdorbnem Weinessig wieder zu sich, der sich von ungefähr im Stalle fand. Kandide (die Augen aufschlagend): Tot! Kunegunde tot! Oh, wo bist du beste der Welten ? – Aber woran starb sie? Gab ihr das den Tod, daß sie mich aus ihres Herrn Vaters schönem Schlosse mit derben Fußstößen hinausjagen sahe? Panglos. Das nicht! Bulgarische Soldaten schlitzten ihr den Bauch auf, nachdem sie selbige zuvor auf’s möglichste genotzüchtigt hatten; den Baron, der ihr beistehn wollen, hatten sie vor’n Kopf geschossen; die Frau Baronin in Stücken zerhauen; meinem armen Untergebnen nicht besser mitgespielt als seiner Baroneß Schwester; und was das Schloß anlangt, da ist kein Hammel, keine Ente am Leben geblieben, kein Stein auf dem andern, keine Scheune, kein Stall, kein Baum auf seinem alten Fleck. Wir haben aber Genugtuung bekommen, völlige Genugtuung. Die Abaren haben’s auf einem benachbarten bulgarischen Rittersitz ebenso gemacht. Kandide sank bei der Erzählung abermals in Ohnmacht; nachdem er aber wieder zu sich gekommen war und ein gehöriges Lamento angestimmt hatte, erkundigt‘ er sich nach der Ursach und Wirkung und dem zureichenden Grunde, der Panglosen in einen so erbärmlichen Zustand versetzt. Panglos. Ach Liebe war’s, Liebe, sie, die Trost auf das ganze menschliche Geschlecht herabströmt, das ganze Universum umfaßt und erhält, sie, der Lebensquell aller fühlenden Geschöpfe; Liebe war’s, der zärtlichste aller Affekte. Kandide. Auch ich hab sie gekannt, diese Liebe, sie, die alle Herzen beherrscht, Leben und Licht in unsre Seele bringt; und der Lohn, den sie mir gab, bestand aus einem Kuß und zwanzig Fußtritten in den Hintern; ein beßrer Lohn ward mir nie. Wie konnte aber diese schöne Ursach so abscheuliche Wirkungen bei Ihnen hervorbringen?“

Und so reist Candide durch die Welt, erlebt viele Abenteuer mit Ungarn, Türken, Muftis, Katholiken – allem, was die damalige Welt zu bieten hatte, um endlich dorthin zu kommen, wo man besser leben kann.

Alles Wichtige zu diesem Buch findet sich in einem Wikipedia-Artikel.

Aber es lohnt sich, dieses Buch heute noch mal zu lesen, denn im Zeitalter von Gender und verbaler Gleichmacherei wäre zu fragen, ob so ein Buch nicht unter die Zensur fiele:

„Ein bulgarischer Hauptmann trat in mein Schlafgemach, sähe wie mein Blut herabtropft, der Soldat blieb, wo er Posten gefaßt hatte. Der Hauptmann ward wild, daß dies Vieh so wenig Subordination bezeigte, und stach ihn auf meinem Leibe tot, er ließ mich hierauf verbinden und führte mich als Kriegsgefangne in sein Quartier. Ich wusch ihm sein paar Hemden und bestellte seine Küche. Er fand – muß ich gestehen –, daß ich ein gar niedlich Ding sei, und er war – ich kann’s gar nicht in Abrede sein – eine sehr wohlgebaute Mannsperson, hatte eine weiche, weiße Haut, aber herzlich wenig Kopf und noch weniger Philosophie: man merkt‘ es ihm gleich an, daß er kein Schüler des großen Panglos gewesen war. Binnen einem Vierteljahr war all‘ sein Geldchen fort und er meiner überdrüssig; er verkaufte mich an den Don Isaschar, einen Juden, der nach Holland und Portugal handelte und ein ungemeiner Liebhaber von Frauenzimmern war. Wie der Mann an mir hing, wie er mit Bitten und Gewalt in mich drang, und doch konnt‘ er nicht siegen. Ich tat ihm tapfrern Widerstand als dem bulgarischen Soldaten. Ein rechtschaffnes Mädchen kann wohl einmal geschändet werden, aber dadurch wird sie um so mehr Lukrezia. Um mich zahmer zu machen, führte mich der Jude auf dies Landhaus hier. Ich hatte bisher geglaubt, es gäbe kein schöners Schloß als das unsrige, nunmehr wurd‘ ich eines Bessern belehrt. Eines Tages ward mich der Großinquisitor in der Messe gewahr, er warf während des hohen Amts die lüsternsten, buhlendsten Blicke auf mich und ließ mir melden, er hätte mir etwas unter vier Augen zu sagen. Ich ward in seinen Palast gebracht, entdeckte ihm meine Herkunft; er stellte mir vor, wie weit es unter meinem Range wäre, einem Schuft von Juden anzugehören, und ließ dem Don Isaschar den Vorschlag tun, mich Ihro Hochwürden Gnaden abzutreten. Dazu wollte sich Don Isaschar nicht verstehn; der Mann ist Hof Wechsler und gilt viel. Der Inquisitor drohte ihm mit einem Autodafé. Das wirkte; jagte meinen Juden ins Horn. Husch! schloß er einen Vergleich mit dem Pfaffen; vermöge dessen gehör‘ ich und Haus ihnen gemeinschaftlich; der Montag, Mittwoch und Schabbes ist dem Juden, die übrigen Tage in der Woche gehören dem Inquisitor.“

Darf man heute so noch schreiben? Hat sich die Welt trotz der Abschaffung solcher Sprache verbessert oder wird sie dadurch besser? Ist Voltaire ein Rassist, waren alle Menschen vor uns Rassisten?

Dies alles sind Fragen, die wir uns stellen und beantworten sollten.

Eine Antwort lautet in der aktuellen Debatte ja, daß man das Wort Rasse aus dem Grundgesetz streichen soll. Wenn es so einfach wäre!

Eine andere würde wohl in Verlängerung lauten, wenn wir alles verbieten, was rassistisch ist, dann gibt es weniger Rassismus in den Köpfen. Glaubt da jemand dran?

Übrigens endet unser Denken an den Grenzen des Landes, das wir selbst verteidigen, um so leben zu können – wenn wir es noch verteidigen …

Candide oder der Optimismus ist so gut, weil er die Widersprüchlichkeit der Welt und der Menschen auf den Punkt bringt.

Es ist ein Buch, das sich heute vielleicht mehr denn je lohnt, weil es uns den Spiegel vorhält und unsere Zeitgebundenheit deutlich macht.

Voltaire hat die Machtstrukturen seiner Zeit und die Ideologien und Glaubensfragen herausgearbeitet, die zu Kriegen und Gemetzel führten.

Die Machtstrukturen sind bis heute vorhanden.

Da wir alle endlich sind und Geld führt und unsere Antworten heute haben uns nicht weiter weg aus den Fragen unserer Welt gebracht.

„Wenn wir über die Armen sprechen, dann tun wir so, als würden Geld und Leistung zusammenhängen – aber gleichzeitig sehen wir bei den Reichen jeden Tag, dass das eine Lüge ist. Ich würde das Erben abschaffen, und dafür die Möglichkeiten, zu Lebzeiten zu schenken, ausweiten. “

So klug und gut wie Anna Mayr kann man heute bei uns diskutieren. Aber es gibt ja noch die Bestrebungen der alten Adeligen, sich selbst wieder einzusetzen und es gibt die neuen Herrscher und Gruppen, die die Welt mit alten und neuen Argumenten sich untertan machen wollen.

Und wer nicht in einer Demokratie mit unserer Meinungsfreiheit lebt, was kann der/die tun? Da lacht man meistens über Gendersternchen und das dritte Geschlecht.

Insofern lohnt sich das Buch Candide heute um so mehr, weil es unser eigenes Denken und Handeln ebenso infrage stellt wie früheres Denken und Handeln.

Klar ist, wenn man den Menschen die soziale Sicherheit nimmt, destabilisiert sich ein System und kann nur mit Gewalt aufrecht erhalten werden. Klar ist auch, es gibt genügend, die sich gerne mit Gewalt die Macht nehmen würden, auch in Demokratien. Da den Herrschenden (Geld führt) die Regierenden zu Füßen liegen und alle Versuche, dies abzuschaffen, nicht gelingen werden, bleibt zu fragen, wie man am Besten überlebt.

Das Leben gibt die Antwort.