Veröffentlicht in Essay

Wann wird Zeit zur Geschichte?

In Köln ist gerade eine Ausstellung zum Thema Innere Sicherheit. Die Kuratoren haben dort extra Informationen zu Themen wie RAF eingefügt, weil dies heute viele junge Menschen nicht mehr wissen.

Das ist eines von vielen Beispielen. Ich bin nun über 50 und erlebe wie vieles von dem, was ich aktuell in meinem Bewußtsein trage und was mich bei meinem Handeln und Urteilen begleitet, bei vielen anderen Menschen überhaupt keine Rolle spielt.

Sie wissen es nicht, weil sie es nicht interessiert, weil die Schule es nicht vermittelt hat oder warum auch immer. Gerade heute kann man sich viel ersuchen, aber man muß wissen, wonach.

So ist das, was mich trägt und vor über 30 Jahren war, bei anderen kein relevantes Merkmal für ihr Handeln. Mein Wissen ist aus dem relevanten sozialen und politischen Handlungswissen dieser Gesellschaft bei großen Teilen weg.

Und viele Ostdeutsche erwachen nun langsam aus dem Trauma, dass sie im Lügengebäude der BRD 30 Jahre festhielt, weil die eigenen Erfahrungen so lange so entgegengesetzt waren, daß die Psyche sich meldet.

Albert Camus hat einmal darauf hingewiesen, daß man eigentlich mit ca. 30 Jahren sein Leben in ein Verhältnis zut Zeit stellt. Bis dahin glaubt man immer 18 zu sein.

Und vielleicht stellt man mit ca. 50 Jahren sein Leben in ein Verhältnis zur Vergangenheit und Gegenwart und merkt wie viel an anderern Kriterien heute den Alltag bestimmt.

Hinzu kommt, daß vieles nicht mehr wichtig ist, was einmal wichtig war.

Aber das heißt nicht, daß es heute besser ist.

Ich war dabei als der Neoliberalismus von allen Parteien eingeführt wurde, die heute noch im Bundestag sitzen mit Personen von damals. Sie zerstörten unseren Sozialstaat und träumten vom freien Spiel der Kräfte, also der freien Fahrt für Reiche, die alle Armen überfahren.

Aber ich war auch dabei als die Armen mit Brot und Spielen weitermachten statt sich zu wehren.

Insofern gehört zur historischen Wahrheit auch die Bequemlichkeit der Satten.

Dies alles ist nun Geschichte und die neu aufgewachsenen Menschen sind oft so lieb und oberflächlich orientiert, daß man sich wundert, was alles bei Studium und Ausbildung rauskommt wie auch ohne alles.

So ist mir auch klar, daß meine Welt nur ein Teil der Welt der Anderen ist und meine Sicht nicht dominiert. Nur der Wandel bleibt und der mischt immer alles neu.

Vor einigen Jahren gratulierte ich immer zum 100. Geburtstag. Als ich einen Gratulanten fragte, ob er sich freue, antwortete er nein. Warum nicht war meine nächste Frage. Er sagte, weil alle aus seiner Welt tot sind, aus dem Zigarrenraucherverein, aus dem Mandolinenverein usw.

So ist die Lebenszeit auch eine Erlebenszeit.

Wenn unsere Erlebnisse nicht mehr da sind, weil keiner mehr da ist, der dabei war und sich daran erinnert, dann ist die Gegenwart zur Geschichte geworden.

Aber damit ist sie noch lange nicht zur dokumentierten und abrufbaren Geschichte geworden. Dazu braucht man dann die Chronisten oder Historiker, die tätig werden und aus dem Vergessenen etwas Verwertbares machen oder die versuchen, das Geschehene vor dem Vergessen zu bewahren und braucht die, die sich dafür interessieren…

Ich bin keine 18 mehr und ich bin über 50. Meine Welt ist Geschichte und meine Geschichte ist ein Teil der Welt.

Und wer heute 18 ist, der hat noch 12 Jahre bis sie/er merkt, daß er/sie keine 18 mehr ist – spätestens.

Aber ich habe auch gemerkt, daß die Alltagsbewältigung selbst bei selbstgesteuerten Akademikern kaum über den Alltag hinauskommt. Und historisches Handeln mit Weitblick und mit dem Vermeiden von Fehlern mit langfristigen Auswirkungen findet nicht statt. Das ist eine grundlegende Einsicht meiner Seminare „Global denken, vor Ort handeln.“

So leben wir alle Tage und lernen kaum aus der Geschichte. Aber wir sind dabei, wenn wir selbst zur Geschichte werden und lange genug gelebt haben. Damit beginnt für uns dann persönlich eine neue Gegenwart.

Denn der Rat der Alten, der früher wichtig war, ist heute den Lügen der Alten gewichen, die immer wieder beteuern, man könne ewig jung bleiben und man könne bis 70 arbeiten, wobei sie dabei Politik als Showgeschäft meinen oder Aufsichtsratsgeschäfte mit Fräuleins im Büro. Aber das sagen sie nicht.

Ich stelle gerade bei diesen Worten fest, daß bei mir die Sozialkritik immer noch geblieben ist, weil es ziemlich einfach wäre, unsere sozialen Probleme zu lösen und klare Grenzen aufzuzeigen. Dies habe ich hier schon öfter publiziert.

So ende ich mit der Einsicht von Spartakus in den Worten von A. Koestler: so wunderbar die Gabe des Wissens ist, so wenig hat sie doch Macht über das Geschehen.

PS: Vielleicht schreibe ich so, weil ich älter geworden bin, vielleicht auch nur, weil die Wirklichkeit die Aufgabe ist, die es zu lösen gilt.

Und weil die Seele nie altert, ist man immer zeitlos im Rahmen eines alternden Körpers, der sich alle 7 Jahre komplett erneuert, also eigentlich immer jungalt ist.

Und weil es so ist wie es ist, ist es so wie es ist – so ist es.

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