Veröffentlicht in Alle, Zeitgeschichte

Hitlers Eliten nach 1945, hg. von Norbert Frei

Es ist eines der wichtigsten Bücher über die Bundesrepublik überhaupt. 2014 in der sechsten Auflage gedruckt macht es Hoffnung, daß irgendwann verstanden wird, wer wir sind.

Ich bin 1962 geboren und habe u.a. Geschichte studiert. Mein Schwerpunkt lag im Bereich Zeitgeschichte und 3. Reich.

Mein politischer Ziehvater war Dr. Siegfried Middelhaufe, der in NRW nach dem 2. Weltkrieg die Polizei mit Walter Menzel wesentlich neu gestaltete. Er erzählte mir immer, daß er abends Haftbefehle für Nazis ausstellte und die am anderen Morgen schon weg waren, weil die Organisation ODESSA heimlich informierte.

Als Arbeiterkind und SPD-Mitglied (damals) glaubte ich, daß es gut sei, die Nazizeit aufzuarbeiten, um eine Wiederholung zu vermeiden. Dr. Middelhaufe zeigte mir das Braunbuch der Nazizeit, das die DDR herausgegeben hatte, um die Nazis zu identifizieren. Das gab es in der BRD nicht!

Wie naiv das war habe ich nach dem Lesen des Buches von Norbert Frei erkannt. So trat ich als idealisierter und demokratisch denkender Mensch den alten Eliten und den neuen Eliten auf die Füße.

Denn Fressen und Moral waren in beiden Fällen deckungsgleich.

 

Die Gedanken der Nazizeit pflanzen sich im Alltag der BRD fort

Die Nazis waren die Deutschen. So banal es klingt so wenig ist es bis heute bewußt. Ich war als „Nachgeborener“ Teil des neuen Bewußtseins und lebte zugleich mit dem alten Schweigen zusammen.

Ich erinnere mich, daß selbst in der Gaststätte alle zusammen saßen und nur heimlich manchmal erzählt wurde, der war Nazi und der war Kommunist. Öffentlich lebten alle zusammen im Siedlermilieu und in den Industriebetrieben.

Wo sie arbeiteten, wurde genau nach dem Prinzip personalpolitisch gearbeitet, das als Harzburger Modell aus der Nazizeit stammt. So wurde das alte Denken täglich gelebt und dann zu Hause und im Siedlungswesen drumherum eingepflanzt und fortgeführt.

Das galt im Kleinen und im Großen.

 

Die Unis schützten auch vor Wissen

„Und bei der Deutschen Bank leitete Vorstandssprecher Alfred Herrhausen – zwölf Jahre nachdem Hermann Josef Abs aus dem Aufsichtsrat ausgeschieden war – eine nicht minder radikale Wende ein: Die Archive wurden 1988 erstmals für die wissenschaftliche Nutzung geöffnet“ (109).

Dieser Satz aus dem Buch erklärt mir, warum während meines Studiums dies alles noch keine Rolle spielte und eher die Frage wichtig war, wer war schuld am Kalten Krieg und ob Stalinismus und Nationalsozialismus wesensgleich sind.

Kritische Zeitgeschichte kam eher außerhalb der Lehrpläne vor, wenn man die Bücher von Bernt Engelmann und Reinhard Kühnl las.  Die gab es nicht an der Uni.

Die Uni war ein geschützter Raum im doppelten Sinn.

Das Buch OMGUS oder Die Ermittlungen gegen die Deutsche Bank kam erst viele Jahre später in der Anderen Bibliothek von Hans Magnus Enzensberger heraus.

 

Die beamteten Lehrer beschützen die Schule

So wuchs ich mit der in der Nazizeit sozialisierten Führungsschicht um mich herum auf und glaubte das, was mir vermittelt wurde.

Wer andern glaubt, insbesondere Studienräten, …

Und so ist dieses Buch ein Buch über die Bundesrepublik, das seinesgleichen sucht.

Das erklärt  übrigens auch die Erlebnisse, die ich später bei dem Buch über Remscheid in der Zeit des Nationalsozialismus hatte.

 

Medizin ohne Menschlichkeit

Besonders eindrücklich wird in dem Buch zu Beginn das Thema Ärzte im Nationalsozialismus von Tobias Freimüller geschildert. Medizin ohne Menschlichkeit und Ärzte, die danach in der Bundesrepublik vielfach weitermachten als ob nichts geschehen wäre und in dem Glauben, es sei auch gut so.

Wenn ich dann lese, dass Alexander Mitscherlich bis zu seinem Tod einer der meistgehaßten Mediziner in Deutschland war, weil er das Buch Medizin ohne Menschlichkeit herausgegeben hat und auf Ärztekongressen systematisch diskreditiert wurde, dann erklärt dies manchen Zusammenhang.

Auch die anderen Beiträge von Marc von Miquel, Tim Schanetzky, Jens Scholten und Matthias Weiß zeigen Ähnliches auf.

Die Bundesrepublik ist in den Machtstrukturen erheblich von den alten Eliten weitergeführt worden.

(Übrigens sind deren Vermögen bis heute weitgehend unangetastet geblieben und mittlerweile herrschen sie direkt und indirekt über erhebliche Teile der deutschen Infrastruktur bis zum Wald.)

 

Das gute Grundgesetz

Das Grundgesetz ist Ausdruck des Mißtrauens gegenüber den Eliten und schützt so bis heute die Würde des Menschen dort, wo sonst die Mächtigen und die Eliten machen könnten was sie wollten.

In dem Buch wird z.B. auch die teilweise sehr unrühmliche Rolle des Bundesgerichtshofes dargestellt und es wird die vielfältige gegenseitige Deckung der alten Eliten gezeigt.

Alte Nazis wurden Gutachter bei den Sozialversicherungen mit allen Folgen für die Beurteilungen und die Ablehnungen.

Norbert Frei schreibt am Ende des Buches: „Dieses Buch .. konzentriert sich auf fünf bedeutsame Gruppen: auf Mediziner, Militärs, Unternehmer, Journalisten und Juristen. Damit ist das Feld der politisch und gesellschaftspolitisch zentralen Funktionseliten nicht zur Gänze abgesteckt, wohl aber in entscheidenden Bereichen. Das gilt um so mehr, als die Beamtenschaft, die auf Anhieb zu fehlen scheint, in dieser Auswahl vielfach auftaucht.“

Der Nationalsozialismus traf bei vielen Deutschen auf Zustimmung, zumal es vielen Menschen in den ersten Jahren gut ging und sich ihre soziale und gefühlte Lage verbesserte.

Letztlich führte der Sieg der Allierten nur zum Verschwinden der Umsetzung von Völkermord und dem Abschlachten Andersdenkender in Mitteleuropa.

Hätte Hitler gewonnen, würde es diese Zeilen nicht geben und ich würde wahrscheinlich auch die Welt anders sehen weil ich sie so nicht kennen würde.

Das Erlernen von Demokratie durch die Vorgaben des Grundgesetzes brauchte Jahrzehnte und ist bis heute nur teilweise dem Grundgesetz entsprechend umgesetzt.

Auch in der neuen Gemengelage wirkt die Weitergabe der alten Denkweisen. Sie wirkt an Universitäten, in der juristischer Logik, in der Industrie, bei verwaltungsmäßigen Klassifikationen und in anderen Bereichen.

 

Mauerfall

Der Mauerfall und die Grenzöffnung haben dies übrigens alles nicht ersetzt sondern dem Ganzen eher neuen Spielraum gegeben.

Thema Agenda 2010

Ein Denkmal dafür wurde in den Jobcentern gesetzt. Dort sind die alten Denkweisen besonders stark ausgeprägt.

Der staatliche Weg in den Tod war Teil der Nazizeit.

Die Agenda 2010 mit Hartz 4 ist in ihrer realen Ausprägung die bewußte Umsetzung dieser Logik, die die Menschen in den sozialen Tod zwingt und dabei auch bewußt den biologischen Tod in Kauf nimmt.

Hartz 4 ist der Restmüll der Nazizeit. Dies alles geschieht unter Mißachtung des Grundgesetzes.

Thema Begutachtung in Sozialversicherungen

Wer schon mal mit Sozialversicherungen, Gutachtern oder dem Medizinischen Dienst bei Schwerbehinderung oder Rente zu tun hatte, der versteht, was ich meine. Die Ärzte richten sich nach den Vorgaben (wie im Dritten Reich) und die alte Behördenlogik kommt voll zum Einsatz:

Der abstrakte Verweis in der Rentenversicherung ist so ein Fall.

Selbst Naziopfer und Stalingradopfer würden heute wahrscheinlich noch zurück auf den Arbeitsmarkt geschickt, weil die Begutachtungsregelungen im Kopf und auf Papier z.T. immer noch so sind in ihrer Logik wie die Logik der Nürnberger Rassegesetze.

So zeigt dieses Buch sehr detailliert, warum wir bis heute so sind.

Das Buch ist eigentlich das wichtigste Buch zur Geschichte der Bundesrepublik, wenn man wissen will, wieso heute noch vieles so ist wie damals.

Hitlers Eliten nach 1945 ist eine Geschichte der Bundesrepublik, die vieles von dem erklärt, was bis heute als Restmüll oder sogar noch als Teil unserer Gesetzgebung und bei vielen Handlungsanleitungen eine Rolle spielt.

Beispiel Remscheid – Nazi-Symbolik als Teil des neuen Stadtbildes

Besonders eindrucksvoll ist dieses Denken auch symbolisch zu sehen in Remscheid. Dort kann man erleben wie die Nazisymbolik wie selbstverständlich Teil des neuen Stadtbildes geworden ist.

Es gibt sicher noch mehr Beispiele, aber hier ist es fast schon nicht mehr zu toppen.

So empfehle ich dieses Buch, weil es zu den besten Büchern gehört, die zur Geschichte der Bundesrepublik und des Nationalsozialismus jemals geschrieben wurden. Denn es erklärt sogar, warum heute noch manche Dinge gemacht werden, die mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind und in ihrer Abfolge sonst nicht verstehbar wären.

In diesem Buch berührt die Vergangenheit ununterbrochen die Gegenwart.

Die Taschenbuchausgabe ist bei dtv erschienen.

Norbert Frei
Hitlers Eliten nach 1945

ISBN 978-3-423-34045-8

 

 

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