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Der Memorzid als Teil der Geschichtsschreibung und der Gegenwart

Ich habe ihn erst jetzt gefunden und gelesen. Es handelt sich um Karl-Markus Gauß.

Offenkundig gehört er zu den Menschen mit viel Wissen und viel Klugheit. Gern gelesen und ohne Wirkung oder anders ausgedrückt ohne politische Relevanz.

Man fragt sich ja, ob Politiker heute überhaupt noch lesen und wenn was. Literatur wird kaum dazugehören und wenn wir sehen, wer heute politisch tätig ist und gewählt wird, dann darf man darüber schon nachdenken.

Nicht mal mehr Geist und Geld finden sich hier zusammen, sondern eigentlich nur noch der Geltungsdrang, der Geld sucht.

Aber darum geht es mir hier nicht.

Der Memorzid bzw. Memozid, das Auslöschen des Gedächtnisses, ist da. Ob das bei den Nazis so gewesen wäre, ist strittig.

Früher wurden die Bücher und Bibliotheken und die Baudenkmäler vergangener Epochen ausgelöscht, um die Besiegten endgültig zu besiegen, heute wird die Vergangenheit neu konstruiert. Sie ist das Bild, das in der digitalen Gegenwart entworfen wird und dann digital medial verbreitet wird.

China zeigt wie digital vorgegangen wird, wenn es staatlich geschieht. Tiananmen ist das Beispiel, das zeigt, wie es geht. Totschweigen und umdeuten bis es niemand mehr weiß.

Da wo Demokratie noch herrscht, geht es anders. Große Konzerne zeigen den Menschen das als Suchergebnisse, was für Werbekunden günstig ist und selektieren dadurch massiv. Anderes wird gar nicht mehr oder kaum gezeigt.

So entstehen neue Weltbilder im Kopf.

Sie entstehen auch in unserem Kopf, in meinem Kopf. Und nun kommt Karl-Markus Gauß ins Spiel. Er hat 2017 ein Buch publiziert mit dem Titel „Der Alltag der Welt“.

Das Buch ist die Welt, die so zufällig, fragmentarisch, vom Vergessen besessen, von Siegern bestimmt und so wandelbar ist, daß seine Geschichten vom Geschriebenen und Geschehenen uns deutlich macht, wie die Welt ist.

Einige Texte aus diesem Buch sind auch online zu finden so wie hier.

„Zudem beklagt Goytisolo nicht nur, daß Sarajevo zerstört wurde, was ja viele tun, sondern er weiß auch, was da zerstört wurde. Für ihn, der die Geschichte Bosniens kennt und um die Vertreibung der arabischen und jüdischen Kultur aus Spanien trauert, war Sarajevo jener heilige Ort, der den vertriebenen Sepharden Aufnahme gewährte und über die Jahrhunderte die Begegnung jüdischer, arabischer und abendländisch-christlicher Kultur ermöglichte.“

So schildert er was geht und ging.

Und er ist ein unglaublicher Beobachter wenn er über die Proteste der Jugendlichen in England schreibt: „Das alte Gebot verlangt von ihnen, dass sie Dinge, die sie haben möchten, nicht stehlen dürfen, sondern kaufen müssen. Das neue Gebot fordert von ihnen, dass sie unentwegt konsumieren, weil sie, sobald sie ihren Status nicht mittels Markenartikel präsentieren können, nichts bedeuten, nichts sind als menschlicher Abfall, Gesindel an den hereinbrechenden Rändern der Gesellschaft.“(20)

Das Aufschreiben des Geschehenen aus dem Blickwinkel des Wissenden erzählt den Alltag der Welt, besser als jede wissenschaftliche Theorie.

Dabei sein ist Leben und der Rückblick die Geschichte in der Wahrnehmung derer, die sie aufschreiben. Was niemand aufgeschrieben hat und weiß, ist weg.

Das ist der Weg durch die Welt in unserer Lebenszeit.

Was wir dabei tun und lassen, entscheidet über das, was wir sind.

Und was wir nicht finden, weil es die Suchmaschinen uns nicht zeigen und wir es so kaum finden, erweitert nicht den Horizont.

Was wir denken werden wir – was wir gedacht haben sind wir ?

Welchen Einfluss haben Wissen, Suchmaschinen, Bildung, Erziehung heute?