Veröffentlicht in Essay

Persönliche Erinnerungskultur und die Rolle der Fotografie heute

Fragen

Wenn ein Haus leergeräumt wird, finden sich oft an den Wänden und in den Schubladen alte Fotos, die keiner mehr will. Diese Fotos hatten für die Besitzer aber einen persönlichen Erinnerungswert.

Wenn heute ein Unternehmen seine Geschichte aufarbeiten will, dann wird ein Historikerbüro beauftragt, das die vorgefundenen Materialien sichtet und daraus ein Buch, eine Webseite oder sonst etwas macht.

Wenn früher ein Foto ausreichte, um die gesamte Kindheit darzustellen und heute allein von dem Baby mehr digitale Fotos auf Handys existieren als je zuvor, was macht man dann damit in zehn Jahren?

Wenn Unternehmen heute zwar Videoüberwachung haben aber Produktion und Verlagerung just in time nur noch die Funktion betonen, welche Rolle spielt dabei dann die Erinnerung?

Diese vier W-Absätze mögen der Einstimmung dienen, um mich dem Thema zu nähern. „Persönliche Erinnerungskultur und die Rolle der Fotografie heute“ weiterlesen

Veröffentlicht in Buch, Zeitgeschichte

Eberhard Klöppel, Das Mansfelder Land 1974–1989 Bildband

  • Ich habe hier eine außergewöhnlich gute Perle der Dokumentarfotografie gefunden.

Der Fotograf Eberhard Klöppel hat im Mitteldeutschen Verlag ein Fotobuch veröffentlicht, das am Beispiel des Mansfelder Landes durch Fotos mit großer dokumentarischer Kraft zeigt, wie es war bis zur Wende. Hinzu kommt der Längsschnitt und der Querschnitt durch die Zeit, der dies alles als Gesamtbild erfahrbar macht.

So muß ein dokumentarfotografisches Buch sein, das soziale Fotografie, Zeitgeschehen und das Leben vor Ort über viele Jahre darstellt. Es ist einfach großartig, weil es ungeschönt aber wohlwollend zeigt, wie es eigentlich gewesen ist.

Wenn Fotos noch eine dokumentierende Funktion haben, dann ist sie hier zu sehen.

Rückblickend ist dieses Buch aber noch viel mehr. Es ist eine detailreiche und spannende visuelle Geschichte über das Leben in der DDR.

„Eberhard Klöppel, Das Mansfelder Land 1974–1989 Bildband“ weiterlesen

Veröffentlicht in Bergisches

Von Wupperseiten zu Wupperlens – ein visuelles Bergisches Geschichtsbuch

Sichtbares und Gesehenes festzuhalten ist die Aufgabe eines selbsternannten visuellen Chronisten. Der ständige Wandel der äußeren Umstände ist Kennzeichen unserer sichtbaren sozialen Welt. Die unsichtbare Welt mit ihren Herrschaftsstrukturen wird dabei teilweise sichtbar. „Von Wupperseiten zu Wupperlens – ein visuelles Bergisches Geschichtsbuch“ weiterlesen

Veröffentlicht in Alle, Zeitgeschichte

Die fotografische Inszenierung des Verbrechens. Ein Album aus Auschwitz

„Mit der Fertigstellung des Krematoriums III in Auschwitz Birkenau Ende Juni 1943 waren dort sämtliche Mord- und Verbrennungsanlagen funktionsfähig, die zusammen mit dem alten Krematorium in Auschwitz I 4756 Menschen am Tag einäschern konnten. Stolz benachrichtigte Karl Bischoff, Leiter der Zentralbauleitung der Waffen-SS und Polizei Auschwitz, Hans Kammler über die „Leistung“ und Daten der Anlagen: 1440 Leichen pro Krematorium II und III sowie 768 Leichen pro Krematorium IV und V.“

Dieser kleine Textausschnitt von Seite 30 des Buches von Tal Bruttmann, Stefan Hördler und Christoph Kreutzmüller zeigt, was für eine Tiefe und Detailgenauigkeit die Autoren an den Tag legen. „Die fotografische Inszenierung des Verbrechens. Ein Album aus Auschwitz“ weiterlesen

Veröffentlicht in Alle, Essay

Dokumentarfotografie als Arbeitsweise für Historiker – Berufung statt Beruf

Ähnliche Erfahrungen bei Sebastiao Salgado und Michael Mahlke

Mein Beispiel

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung.

Ein besonderes Erlebnis hatte ich kurz nach dem Fall der Mauer. „Dokumentarfotografie als Arbeitsweise für Historiker – Berufung statt Beruf“ weiterlesen

Veröffentlicht in Bergisches, Zeitgeschichte

Bilddokumentationen als Beiträge zur Geschichtsschreibung am Beispiel Bergisches Land 1999 bis 2009

Bilder erzeugen Erinnerungen oder Einsichten, im besten Fall Erinnerungskultur – für die, die dabei waren und für die, die nicht dabei waren. Das ist die Aufgabe von Dokumentarfotografie als Teil der Geschichtsschreibung.

Meine Fotos hier zeigen, dass diese sozialen Entwicklungen überhaupt geschehen sind und dies bewußte Entscheidungen der Politik waren: Verarmung und Sozialabbau bei den Fleissigen und Arbeitsamen bis ins Alter. „Bilddokumentationen als Beiträge zur Geschichtsschreibung am Beispiel Bergisches Land 1999 bis 2009“ weiterlesen

Veröffentlicht in Essay, Heute

Als Chronist unterwegs – 20 Jahre digitale Lebenszeit als analoger Mensch

Es gehört zu meinem Leben, daß ich aus der analogen Welt komme und nun in der digitalen Welt lebe.

Ich bin aufgewachsen mit Büchern – ohne Computer, ohne Telefon, ohne Taschenrechner.

Das hat mich geprägt und deshalb schreibe ich auch heute noch, wenn ich kann. „Als Chronist unterwegs – 20 Jahre digitale Lebenszeit als analoger Mensch“ weiterlesen

Veröffentlicht in Alle, Buch, Zeitgeschichte

Auschwitz – Fall of the Modern Age von Tomasz Lewandowski

Die Allianz hat Auschwitz versichert. Deshalb forderte sie, daß im Vernichtungslager ein Feuerlöschbecken gebaut wurde. Dieses Feuerlöschbecken konnte auch als Schwimmbad genutzt werden und ist als Foto nun in dem Buch Auschwitz – Fall Of The Modern Age zu sehen. „Auschwitz – Fall of the Modern Age von Tomasz Lewandowski“ weiterlesen

Veröffentlicht in Essay, Zeitgeschichte

Soziale Kämpfe im Ruhrgebiet und im Bergischen Land zwischen 1987 und 2010

Es hat knapp dreißig Jahre gedauert bis die Fotos von Michael Kerstgens über den Stahlarbeiterstreik in Duisburg-Rheinhausen 1987 als Buch erschienen sind. Dieses Buch wurde u.a. durch die Hans-Böckler-Stiftung gefördert. Es ist ein gutes Buch geworden und es erinnert mich an meine eigenen Erlebnisse.

Michael Kerstgens zeigt Fotos von 1987 bis 1993 als im Walzwerk in Hagen die letzte Schicht war und symbolisch das Ende des gesamten sozialen Konstruktes.

Und im Bergischen Land ging es dann weiter.

Ich erinnere mich noch wie heute. Am 1. September 1992 fand eine Betriebsversammlung bei  einer großen Remscheider Firma statt. Dort wurde verkündet, daß das Werk aus Remscheid nach Ostdeutschland verlagert wird, weil dort quasi alles subventioniert wurde und die Löhne niedriger waren. Die Entscheidung war die unternehmerisch logische Folge politischer Vorgaben nach der Wiedervereinigung. Auf dieser Versammlung sagte ein Beschäftigter, er könne auch für die Hälfte arbeiten, wenn die Preise und Mieten sich halbieren würden. Aber das war natürlich politisch nicht gewollt. Und so kam es wie es kommen mußte.

Das war der Auftakt und danach wurde es von Jahr zu Jahr schlimmer in der Region Remscheid/Solingen/Hückeswagen etc.

Meine persönlichen Erlebnisse mit Arbeitsplatzabbau und Sozialabbau „gipfelten“ erstmalig im Kampf um das Mannesmann-Werk in Remscheid 1999 und 2000.

Dabei waren die Interessen innerhalb des Konzerns, der Betriebsräte und der IG Metall je nach Ebene und Funktion sehr unterschiedlich, oft diametral entgegengesetzt wie ich rückblickend im Laufe von Jahren in einem sozialen Puzzle zusammensetzen konnte. Aber Einzelne auch in der IG Metall setzten sich über alle Widerstände hinweg und gaben so den Kämpfenden vor Ort ihre Selbstachtung  zurück, auch wenn dies das Ende ihrer Karriere war.

Mannesmann und Krupp waren eben echt mitbestimmt und deshalb ist die Verantwortung von Arbeitnehmervertretern auch eine andere gewesen als bei der Pseudomitbestimmung, die durch die zweite Stimme des Vorsitzenden immer ausgehebelt werden kann. Das Ganze hat dadurch eine andere politische Qualität. Doch dies nur am Rande.

Ich komme darauf, weil ich mich nach der Beschäftigung mit dem Buch von Michael Kerstgens so genau daran erinnere. In der Bevölkerung in Remscheid war die gleiche Solidarität wie in Rheinhausen und die Abläufe waren denen so ähnlich, daß das Buch von Michael Kerstgens bei mir alte Wunden aufgerissen hat.

Das Ganze nahm mich auch persönlich sehr mit. Und mit Mannesmann endete die Deindustrialisierung ja nicht. Es war kein Umbau es war fast nur Abbau. Die Ursachen waren rein politisch und nicht alternativlos.

So ist meine digitale Dokumentation über den Kampf um Mannesmann in Remscheid 1999/2000 die logische Fortsetzung der gedruckten Dokumentation über den Kampf in Duisburg-Rheinhausen 1987/1988. 

Soziale Kämpfe zwischen Ruhr und Rhein entlang der Wupper.

Erwähnen möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich noch das Buch von Horst-Dieter Zinn, das online verfügbar ist. Er fotografierte damals in Hattingen bei der Schließung der Henrichshütte bis 1987 nicht die Kämpfe sondern die Menschen, die davon und darum lebten. Es ist ein wunderbares Buch geworden, ein Dokument über die soziale Landschaft in Hattingen und ein echtes Stück Erinnerungskultur mit dem desillusionierenden und dokumentierenden Titel „Eine Heimat geht bankrott“.

Damit zurück zum Bergischen Land.

Die Region vor dem Ruhrgebiet im Bergischen Land zerbröckelte industriell praktisch, weil die Politik nur öffentliche Gelder für den Strukturwandel im Ruhrgebiet bereitstellte. Die Landes- und Bundespolitiker zuckten immer nur mit den Schultern, wenn Geld für den Strukturwandel in Remscheid, Solingen und Umgebung gefordert wurde. Da kam nichts.

Dafür kamen Firmenpleiten und Verlagerungen in einem bis dahin ungeahnten Ausmaß jenseits eines Weltkrieges.

Auch das dokumentierte ich fotografisch mit Beispielen unter dem Titel 15 Blicke auf das Arbeitsleben bis zu dem Versuch, die Agenda 2010 mit der Rente ab 67 zu verhindern, die den Arbeitnehmern dann den Rest gab.

Alles endete in diesem Ausmaß ungefähr 2010 als die Agenda 2010 voll wirkte und der soziale Kahlschlag in Deutschland als asoziale Meisterleistung politisch gefeiert wurde.

Regional betrachtet sind damit wesentliche Kämpfe mit Symbolcharakter, die die Machtverhältnisse und die politisch gemachten sozialen Veränderungen und Verwerfungen zeigen, fotografisch dokumentiert und stehen als Teil des visuellen Gedächtnisses dieser Region zur Verfügung.

Nicht alles ist gedruckt aber alles ist präsent und öffentlich und zumindest meine Dokumentationen sind digital offen sichtbar.

Alle Fotos sind Kinder ihrer Zeit. Michael Kerstgens hat damals die analogen Reportagefotos in Schwarzweiß gemacht, ich habe die ersten digitalen Fotos in Farbe mit kleinen Kompaktkameras gemacht und versucht, diese schon 1999 in die Internetwelt zu tragen mit der Domain solidaritaet.de.

Heute übernehmen dies nur zum Teil soziale Netzwerke, weil diese ja auch Ausdruck von Machtverhältnissen sind.

Was sich zwischen Ruhr und Rhein getan hat ist nun mit Fotos aktualisiert verfügbar.

Die Fotos tun heute natürlich nur noch denen weh, die damals Erlebnisse hatten, die sich einprägten. Für alle anderen sind sie oft eher langweilig, weil sie Nüchternheit, Funktionalität und Industrielle Zivilisation zeigen, eben die sichtbaren Elemente einer eher unsichtbaren sozialen Landschaft, die nur bei sozialen Ereignissen mal sichtbar wird.

In Duisburg-Rheinhausen war Franz Steinkühler, in Remscheid Klaus Zwickel und Peer Steinbrück und Wolfgang Clement. Wolfgang Clement malte man sogar ein großes Porträt, weil er als Hoffnungsträger galt. Aber bei ihm hatten sich ja alle gründlich getäuscht.

Das visuelle Gedächtnis der Region ist nun besser sichtbar. Die sozialen Narben der Beteiligten und Betroffenen sind nur persönlich spürbar.

Aber ohne das Buch von Michael Kerstgens hätte ich den Blick nicht noch einmal so auf das Geschehen gelenkt und meine Bilder im Kopf herausgeholt. Sich dem zu stellen bedeutet damit zu leben.

Es gab kein Happyend.

Es ist vor Ort vorbei und es gibt neue Herausforderungen.

Das Soziale ist eben Schicksal und Chance des Menschen und wird es bleiben.

Und Macht wird nur durch Gegenmacht begrenzt, auch in Organisationen.

Das bleibt.

Veröffentlicht in Buch, Neuzeit

Mittelalter Fotografie von Charlie Dombrow, hrsg. Ulrich Dorn

„Wie geht ein Ritter in Rüstung zum Klo? Trug jedes Burgfräulein einen Keuschheitsgürtel? … Zum Glück haben sich die Zeiten gewandelt. Heutzutage kann man solche Fragen direkt jenen stellen, die die Antworten eigentlich wissen müssen. Beispielsweise einem echten Ritter, der sich auf einem Mittelalterfest gewiss auch mit der Entsorgung beschäftigen muß…  Das wiederbelebte Mittelalter ist ein wunderbares Thema für Fotografen. Entdecken Sie mit der Kamera eine abwechslungsreiche Szene, die Traditionen bewahrt und Historie lebt…“

Mit diesen Worten führt uns der Autor Charlie Dombrow in sein Buch über Mittelalter-Fotografie ein. „Mittelalter Fotografie von Charlie Dombrow, hrsg. Ulrich Dorn“ weiterlesen

Veröffentlicht in Buch

Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel von Gerhard Paul

Gerhard Paul hat es geschafft.  Sein Buch zur visuellen Geschichtsschreibung ist wunderbar und großartig.

Warum?

Das Buch ist wunderbar, weil es sich einer Sprache bedient, die jeder verstehen kann ohne studiert zu haben und die dennoch fachlich angemessen ist.

Und das Buch ist großartig, weil er einen großen Wurf machte und genau getroffen hat.

Er zeigt wie das Bild den Text als vorherrschendes Medium ablöste und alles veränderte.

Und er zeigt wie sich ein neuer Persönlichkeitstypus entwickelt hat, der visual man. Da hätte ich mir lieber den visuellen Menschen gewünscht, aber das ist ja gemeint.

Alles fing mit Bertha Röntgen an, der Ehefrau von Wilhelm Conrad Röntgen. Paul zeigt uns das Röntgenbild der rechten Hand von Bertha Röntgen und nimmt es als Symbol für die entscheidende Veränderung der Bilderwelt.

Röntgenbilder „verschoben die Grenzen zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren und sie stellten die herkömmlichen Codes wissenschaftlicher und künstlerischer Abbildungstechniken in Frage.“

Von der neuen Sachlichkeit über Fotomontagen bis zu den Surrealisten wie Dali wird vor uns die Geschichte der Bildermacht ausgebreitet, die uns bestimmt, gegen die wir uns wehren, die wir bekämpfen und die uns immer mehr beschäftigt – ob wir wollen oder nicht.

Wir sind mittendrin.

Bilder bestimmen unser Leben.

Das war 1800 noch nicht so. Aber heute ist es so.

Gerhard Paul zitiert Bazon Brock: „Wenn man heute auf einem größeren Flughafen wie etwa München landet, hat man zeitgleich siebenhundert visuelle Impulse zu verarbeiten. Da man die Augen nicht schließen kann, während man auf sein Gepäck wartet, ist man dem Terror von siebenhundert parallel geschalteten Bildbewegungen ausgesetzt. Jeder Wahrnehmungspsychologe kann bestätigen, dass das ungefähr der Belastung von Feuerüberfällen im Schützengraben entspricht.“

„Bildertsunami“ ist also keinesfalls übertrieben.

Aber wer merkt es noch?

Wenn man damit aufgewachsen ist, dann ist dies unsere „Normalität“, die „Norm“ des visuellen Menschen.

Gerhard Paul ist Historiker und zeigt uns daher die Entwicklungen und den jeweiligen visuellen Zeitgeist. Er nutzt dazu „Bildzitate“, das sind viele kleine Fotos von Fotos, Plakaten, Zeichnungen, Malereien etc.

Wie soll man auch sonst Bilder zitieren, wenn man sie nicht zeigen kann?

In diesem Fall eines wissenschaftlichen Werkes scheint es geregelt aber grundsätzlich ist diese Frage bestimmt noch offen, wenn man Journalistenverbände fragen würde. Doch dies gehört  hier nur als Thema der Zeit rein, es ist eine ungelöste Frage im visuellen Zeitalter.

Der visuelle Mensch nimmt seine Zeit, seine Mitmenschen und seine Welt dann anders wahr als es noch zu Gutenbergs Zeiten war. Er kommuniziert auch anders.

Paul gelingt es mit einem großen Schnitt die Zeitachse thematisch sinnvoll aufzuspalten und das Buch in abgeschlossene und sehr klar strukturierte Kapitel zu unterteilen von 1839 bis 1919, 1918 bis 1933, 1933 bis 1945, 1945 bis 1949, 1949 bis 1989 jeweils BRD und DDR, ab 1989/90.

Daraus wird ersichtlich, daß er sich an den politischen Ereignissen orientiert. Und es wird auch deutlich, daß Politik und Bilder untrennbar zusammengehören. Was zu sehen ist, ist da und kann wirken. Was nicht da ist, kann nicht in die Köpfe. Ob und wie es dann in die Köpfe kommt war in jedem Zeitabschnitt anders. Da lohnt sich jedes einzelne Kapitel.

Er hat überall die nötige intellektuelle Distanz und läuft meiner Meinung nach zur Höchstform auf je mehr er sich der Gegenwart nähert. Er zeigt Zusammenhänge auf, die bis in die aktuelle Politik reichen und berührt oft eher ungewollt die Gegenwart, wenn er zeitgeschichtliche Entwicklungen anspricht.

Im Kapitel über die DDR weist er auf eine Medienkompetenz hin, die westdeutschen Blicken fehlt:

„Nicht zuletzt Eduard von Schnitzler und sein Schwarzer Kanal hatten den Visual Man in der DDR gelehrt, dass die televisuellen Bilder nichts als bloßer Schein und böse Propaganda waren. Die beständig in konträren Bildwelten lebenden DDR-Bürger entwickelten im Laufe der Jahrzehnte daher einen kritischen Blick (Karin Hartewig), eine Art Bildkompetenz, die sie sowohl den westlichen als auch den östlichen Bildwelten gegenüber grundsätzlich skeptisch hatte werden lassen.“

Dieser Gedanke endet natürlich mitten im aktuellen politischen Geschehen und wird dort je nach Interesse ausgeschlachtet werden. Deshalb erspare ich mir jeden weiteren Kommentar.

Die Verankerung von Technik in der Alltagskultur ist mit entscheidend für die soziale Ausgestaltung einer Gesellschaft und sehr entscheidend für die Kommunikation der Menschen und der Mächtigen.

Paul schildert den Siegeszug des Fernsehens in Deutschland, der symbolisch bei der Olympiade 1972 zu sehen war.

Und er beschreibt wie Facebook seit der Gründung 2004 in zehn Jahren Kommunikationsplattform von mehr als einer Milliarde Menschen wurde mit monatlichen Fotouploads in Milliardenhöhe. Diese gigantischen Zahlen zeigen aber auch, daß visuelle Kommunikation heute ohne Technik undenkbar ist. Da würde der Schelm in mir fragen, was passiert eigentlich, wenn der Strom ausfällt für lange Zeit? Der Historiker würde dann vielleicht an die Höhlenmalereien als Einstieg und das geschriebene Wort als Aufstieg denken. Aber das ist hier kein Thema.

Gerhard Paul schildert neben den Bilderfluten auch den parallelen Aufstieg der Piktogramme und der Schilder. Je komplexer die Welt desto aussagekräftiger und unverseller mußten Symbole und Piktogramme werden.

Verkehrsschilder mussten genau so universell sein wie die Piktogramme auf den Handys. Das setzte sich fort bis in die Fotografie wie er sehr differenziert darstellt. Verkaufsfähige Fotos sind daher heute oft so abstrakt, daß sie als stockphotos universell einsetzbar sind aber jeder konkreten Aussage entbehren.

Zur Höchstform läuft er in meinen Augen im letzten Kapitel auf. Dort zeigt er die Mechanismen der Bilderwelt von heute aus ihren historischen Entstehungsbedingungen – einfach großartig wie er die Dinge offenlegt und uns die Gedanken schenkt, die unseren analytischen Blick schulen können.

„Der Golfkrieg von 1991 und der Kosovokrieg von 1999 markieren gewissermaßen den pictorial turn in der bisherigen Kriegsführung. Mit beiden Kriegen setzte sich das Bild als smart weapon (Nicholas Mirzoeff) und damit als vierte Waffengattung neben Heer, Luftwaffe und Marine durch. Es wurde integraler Bestanteil der Kriegsführung, so dass zu Recht von einem military visual complex gesprochen wurde.“

Früher wurden die Gegner getötet und dem Feind die Köpfe der Getöteten überbracht. Heute tötest du meine Freunde und dafür töte ich deine Freunde mit dem Ergebnis, daß die Bilder des Einen dann zu den Bildern des Anderen führen, die über die Netzwerke privater Konzerne dann weltweit gezeigt werden,  auch mit Werbung, als vierte Waffengattung.

Das endet außerhalb seines Buches aktuell bei Edward Snowden, der uns gezeigt hat, daß alles, was digital vorstellbar ist, auch gemacht wird, um eigene Interessen durchzusetzen.

Detailliert geht Paul auf Deutschland ein und zeigt wie aus einer Demokratie der Transparenz eine Demokratie der Medien wurde. Früher versuchte man zu zeigen wie es war, heute wird es so gezeigt wie es in die Struktur der Medien passt.

„Fakt jedenfalls ist, das sich Kanzler Schröder zwecks Mobilisierung von Aufmerksamkeit weitestgehend den Logiken der Medien anpasste, während seine Amtsnachfolgerin Angela Merkel sehr viel präziser die Bildmedien für ihre Form einer nüchternen Politikdarstellung nutzte.“

Das hat er geschrieben, bevor Merkel letztes Jahr mit Selfies die Welt nach Deutschland lockte. Aber es belegt auch, daß sie genau wußte, was sie tat oder zumindest ihre Berater.

So ist in dem Buch immer die Grenze zu spüren zwischen historischer Analyse und dem, was wir uns dann denken können, weil genau da der Historiker Paul seriöserweise aufhört.

Die genaueste Rezension ist natürlich die, die so dick ist wie das Buch oder noch dicker. Das wären in diesem Fall mindestens  750 Seiten. Meine Rezension dient daher dazu, ein besonderes Buch vorzustellen, das sich inhaltlich und äußerlich 5 Sterne verdient hat.

Das ist hier der Fall.

Ansonsten gäbe es über dieses Buch noch so viel zu schreiben, daß es besser ist, wenn Sie es einfach selber lesen. Die vielen Bildzitate darin ermöglichen stundenlanges Verweilen und die Texte laden überall zum Lesen ein.

Das Buch ist im Wallstein-Verlag erschienen.

Gerhard Paul
Das visuelle Zeitalter
Punkt und Pixel

Reihe: Visual History. Bilder und Bildpraxen in der Geschichte (Hg. von Jürgen Danyel, Gerhard Paul und Annette Vowinckel); Bd. 01

ISBN: 978-3-8353-1675-1

 

Veröffentlicht in Zeitgeschichte

Fotografie in Diktaturen

Auf der Webseite Zeithistorische Forschungen ist ein Heft veröffentlicht worden mit dem Titel Fotografie in Diktaturen. Es handelt zum Teil von Ereignissen und Vorgängen, die erst wenige Jahre her sind.

So groß wie das Thema ist, so detailliert und abgegrenzt sind die einzelnen Beiträge.

Im Detail zeigt sich dann wie gearbeitet wurde und wird.

„Wenngleich Fotografie in Diktaturen zweifellos für propagandistische Zwecke eingespannt wurde, so erscheint eine Konzentration auf diese Form der Funktionalisierung des Mediums in vielerlei Hinsicht doch problematisch. Zunächst verleitet sie schnell dazu, Propaganda als spezifische Kommunikationsform von und in Diktaturen zu betrachten. Dies ist insofern irreleitend, als der Begriff der Propaganda auch von westlichen Demokratien, allen voran den USA, als deskriptiver Begriff für die eigene öffentliche Kommunikation (auch public diplomacy genannt) verwendet wurde und zudem bis weit in die Nachkriegszeit hinein positiv besetzt war.“

Diese Worte von Annette Vowinckel und Michael Wild zeigen sehr gut, daß der Blick auf dieses Thema direkt in die Gegenwart führt.

„Mit dem Zweiten sieht man schlechter: Das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist in der Flüchtlingskrise vor allem für Durchhalteparolen zuständig. Es beweist dabei, warum es der Politik so lieb und teuer ist.“

Diese Worte stammen von Michael Hanfeld (FAZ Okt. 2015), der hier das beschreibt, was wir als Zuschauer fast täglich ansehen können.

Propaganda pur wird uns geboten und  Journalisten, gerade auch Foto- und Videojournalisten sorgen dann dafür, daß wir den falschen Eindruck bekommen.

Dies hat der Chefredakteur der ARD dann auch freimütig eingeräumt: „Der ARD-Chefredakteur räumte ein, dass die Flüchtlingskrise von den Medien falsch dargestellt werde. Kameraleute würden hauptsächlich Familien mit Kindern filmen, während jedoch 80 Prozent der Migranten junge Männer seien.“

Die Zeithistorischen Forschungen zeigen uns daher im Prinzip das, was wir heute erleben. Nur die Frage der Diktatur ist anders.

Wenn wir Oligopole in der Berichterstattung haben, also fast Monopole, weil es gar keinen freien Zugang mehr zu Vorgängen, Ereignissen und Berichterstattungsterminen gibt, dann haben wir trotz des Rechts auf freie Meinungsäußerung eine Informationsdiktatur.

Das ist bei uns besonders bemerkenswert, weil die durch eine Abgabe bezahlten Medien genau dies eigentlich nicht hinnehmen dürften und darauf verweisen müßten.

Aber die Wahrheit bleibt ja als erstes auf der Strecke wie ich sehr detailliert am Beispiel Je Suis Charlie deutlich gemacht habe.

Insofern ist der Nutzen der Zeithistorischen Forschungen an dieser Stelle ungemein hoch, weil er im Prinzip den Spiegel des Vergangenen hochhält und wir so direkt in das aktuelle Geschehen blicken – wenn wir es sehen wollen.

So ist der Nutzen der Geschichte zugleich auch sein Nachteil: wir sehen eine Wirklichkeit, die nicht sehr schön ist und uns jede Illusion raubt.

Wer will das sehen und wer will wissen, daß er das sehen kann?

Da alle Beiträge dort online zu finden sind, ist dies ein echter Beitrag zur wissenschaftlichen Aufklärung zum Thema Fotografie in Diktaturen, in alten und in neuen Gewändern.

Veröffentlicht in Alle, Zeitgeschichte

Fotos als historische Quellen zwischen Information und Wissen

„Informationen werden mitgeteilt, Wissen erwirbt man durch Bildung.“ Diesen Satz habe ich schon oft zitiert aber er muß immer wieder ins Gedächtnis.

Die Informationen sind da – auch zum Umgang mit Fotos.

Wie schreibt die Bundeszentrale zur politischen Bildung?

„Fotografien sind jedenfalls für die Ereignisgeschichte die besten Quellen. Nehmen wir das Beispiel einer Demonstration: Wir können sehen, dass sie überhaupt stattgefunden hat, welche Ziele sie hatte (wenn Plakate oder Spruchbänder erkennbar sind), welche (vielleicht anderweitig schon bekannten) Personen dabei waren, wo sie sich aufhielten, wie zahlreich die Menge, wie ihre Stimmung war. Vorsichtig müssen wir freilich sein, wenn wir Deutungen und Verallgemeinerungen vornehmen wollen. Denn ein einzelnes Bild zeigt immer nur einen Einzelfall. Um beurteilen zu können, ob er repräsentativ ist, müssen wir entweder über mehrere ähnliche bildliche Darstellungen oder über zusätzliche Informationen verfügen. Wenn Fotos aus dem Jahre 1914 kriegsbegeisterte Freiwillige zeigen, folgt daraus nicht zwangsläufig, dass alle begeistert waren; die Forschung hat in jüngerer Zeit entsprechende Relativierungen vorgenommen. Wer nicht begeistert war, blieb zu Hause – davon gibt es keine Bilder. Bildquellen können also in diesem Fall kein vollständiges Bild der historischen Situation vermitteln.“

So wunderbar die Webseiten der Bundeszentrale sind – so wenig haben sie Relevanz.

Die tägliche Medienwahrnehmung der Menschen ist geprägt durch die Informationskanäle, die im Handy, manchmal in der Zeitung und im Fernsehen zu finden sind. Ja sicher auch im Internet.

Aber insgesamt sind es starke vorgegebene Einstiegswege, die meistens den Rest der Wahrnehmung prägen.

Und es sind eben Informationskanäle.

Man ist informiert.

Mehr nicht.

Erst wenn ich mich tiefer mit diesen Informationen beschäftige, kann daraus Wissen werden.

Wissen ist die Anwendung von Informationen und die Umsetzung.

Wenn Sie das nächste Mal ein Foto sehen und sich fragen,

  • was soll dieses Foto bei mir auslösen,
  • was löst es aus,
  • was springt ins Auge
  • von wem stammt das Foto
  • welche Interessen stecken dahinter

dann wenden Sie die Informationen an, die Sie aus den Informationen hier und bei der Bundeszentrale erhalten haben.

Dadurch wandeln sich die Informationen zu Wissen. Es ist die Verschmelzung von äußeren Reizen mit ihren inneren Wahrnehmungen, die durch Sehen, Fühlen und Denken zu einem Eindruck und einer Meinung führen.

Dadurch bilden Sie sich eine Meinung und nehmen nicht unkritisch hin, was angeboten wird.

Kritik kommt übrigens vom griechischen krinein und meint unterscheiden. Sie lernen also unterscheiden und nehmen die Dinge in ihrer Unterschiedlichkeit wahr.

 

Veröffentlicht in Buch, Zeitgeschichte

Fotografie und Geschichte von Jens Jäger

Geschichte altert nicht. Das gilt auch für dieses Buch. Zwei große Themen der Menschheit, die Geschichte als Erinnerungskultur und die Fotografie als visuell-mechanische Erfassung der Welt, werden hier besprochen.

Kann man eine Rezension über ein Buch schreiben, das Pionierarbeit leistet? Eigentlich eher nicht, es sei denn, man zeigt die Tiefe und Weite. Fabian Schwanzar hat dies getan und die Einordnung gefällt.

Der Verlag bietet einen Einblick in das Buch, der ebenfalls Lust auf mehr macht.

Wenn man nun den Weg in dieses Buch geht, dann verirrt man sich nicht.

Denn das Buch ist der Versuch, eine textliche Landkarte des Wissens über dieses Thema zu erstellen.

Die Landkarte ist gelungen, das Buch großartig und der Lesewert sehr hoch.

Natürlich geht es hier um Bücher, die aus wissenschaftlicher Sicht das Thema behandeln.

Besonders gefällt dabei der Versuch von Jens Jäger, die Verschiedenartigkeit der Wissenschaften mit einzubeziehen.

Was wissenschaftlich ist und war unterliegt dann doch erheblichen Schwankungen und ist immer sozial und kulturell geformt.

Jäger wird für mich besonders interessant, wenn er zur Realienkunde zurückkehrt und damit die gesammelten Luftblasen der fotografischen PR-Kultur auf den Boden der Wirklichkeit zurückführt.

Im Gegensatz zu den vielen Vielschreibern beginnt meine Sympathie für ihn aber schon bei dem Kapitel über die „Klassiker“ dieses Genre:

  • Walter Benjamin
  • Gisele Freund
  • Siegfried Kracauer
  • Susan Sontag
  • Robert Taft
  • Roland Barthes
  • Pierre Bordieu

Das war´s.

Damit sind alle wesentlichen gedanklichen Instrumente zur Verfügung gestellt, um das zu tun, was historische Bildforschung tun kann:

„Historische Bildforschung zielt nicht auf eine wesensmäßige Erfassung bestimmter Bildtypen, sonder auf die historischen Bedingtheiten und Bedeutungen der Bilder und ihrer Wahrnehmung.“

Die Klassiker sind dabei vielfach Texte mit eigenen Erfahrungen, Essays und Feuilleton. Interessanterweise sind sie noch nicht wegen fehlender Fußnoten verpönt, was auch einen Hinweis auf unsere heutige Situation und ihre historische Bedingtheit beinhaltet.

Die Frage ist nur, ob das, was heute als Klassiker ohne Fußnoten gilt in ähnlicher Form heute überhaupt zur Kenntnis genommen würde. So ist dieses Buch auch eine Auseinandersetzung mit der heutigen Wirklichkeit aus historischer Perspektive.

Jägers Buch ist als historische Einführung im Campus-Verlag erschienen. Es ist aber mehr als eine Einführung. Da hat der Verlag untertrieben. Das Buch ermöglicht einen echten Überblick, weil Jäger mit dem Mut zur Lücke geschrieben hat.

Aber er verleugnet es nicht sondern der Verlag und er haben durch die Möglichkeit der Verlinkung über die Webseite die Erweiterung angelegt und das Vertiefen zugänglich gemacht.

„Fotografie ist eine soziale Praxis und als solche kulturell bestimmt. Sie findet stets in gesellschaftlichen Kontexten statt und gewinnt ihre Bedeutung daher nicht aus sich selbst heraus sondern durch Zuschreibungen und Verwendungszusammenhänge.“

Das ist die Lupe mit der Jäger dann in seinem Buch die Themen, Ergebnisse und Problemfelder der Forschung darstellt, so wie sie sich ihm zeigen.

Wer sich für Fotografie und Geschichte interessiert und wissen will, wie man das Ganze wissenschaftlich sieht, der findet hier ein für das Thema erstaunlich leicht zu lesendes Buch, das sich eher durch klare Worte auszeichnet statt dem Fachsprachengewirr neuen Raum zu bieten. Ein Beispiel:

„Wie bei der Visual History bieten auch die Ansätze der Visual (Culture) Studies und viele Untersuchungen, die sich auf den visual oder pictorial turn berufen, kein geschlossenes methodisches System. Das gilt ebenso für die visuelle Anthropologie und Zugänge, die unter Bildwissenschaft oder auch der Historischen Bildforschung subsummiert werden. Der Bezug auf diese Strömungen gibt eher den Rahmen ab, in dem sich die Untersuchungen bewegen, und unterstreicht die Bedeutsamkeit, die visuellem Material beigemessen wird (manchmal allerdings mehr Bekenntnis als praktisch durchgeführt).“

So entknotet er die fachsprachlichen Phrasen und landet bei verständlichem Deutsch.

Das Buch ist im Campus-Verlag erschienen und noch zu haben.

 

 

Veröffentlicht in Buch, Europa

Von Erinnerungsträgern zu Trägern der Erinnerung – Fotos erzählen Alltagsgeschichte zwischen Pontlevoy und Alfeld

Geschichtsschreibung hat nicht nur etwas mit Schreiben zu tun. Gerade bei Fragen des Lebens sagt ein Bild oft mehr als tausend Worte.

Ich möchte hier auf zwei Bücher eingehen, die sehr unterschiedlich und doch sehr gleich sind.

Louis Clergeau war Uhrmacher und Fotograf in dem Ort Pontlevoy. Dort fotografierte er schon vor dem Ersten Weltkrieg und tat dies bis 1936.

So entstand das Bild vom Leben in einer Kleinstadt, dessen Momente der Fotograf festhielt und die seinen Blick und seine Auswahl wiedergeben.

Heute ist das Street Museum fester Bestandteil des Ortes, um die Geschichte zu zeigen und Besuchern auch visuell darzustellen, was dort ist und was dort war.

Fotografisch ist die „Strassenfotografie“ im weiteren Sinne von Louis Clergeau also ein Glücksfall für den Tourismus und für die Kultur- und Alltagsgeschichte des Ortes gewesen.

Geschichtsbewusstsein entsteht im Kopf oft erst durch die Chance, das zu sehen, was früher war.

Fotos ermöglichen dann in den jeweiligen Bereichen den Vergleich und ermöglichen auch Bewertungen.

  • War früher alles schlechter,
  • wie hat man das damals geregelt,
  • warum lebte man früher so?

Im Prinzip ist dies alles aber dem Zufall zu verdanken, der anhand der Lebensgeschichte eines Fotografen und seiner Tochter dem Ort dieses fotografische Gedächtnis zufallen ließ.

Und dem glücklichen Umstand, daß die Doofheit nicht siegte und dies alles entsorgte sondern die Trägheit die entscheidende Kraft war, die zum Glück das Bewusstsein wachsen ließ, sich damit doch näher zu beschäftigen.

Genau so ein Geschenk hat die Stadt Alfeld (Leine) erhalten. Im Buch „Eine Stadt auf Fotopapier“ wird das Leben in dieser Kleinstadt von 1947 bis 1994 gezeigt.

Zwei Fotografen, Vater und Sohn, hielten es fest.

Nach ihrem Tod waren die Fotos fast schon weg. Auch hier waren es mehr als glückliche Umstände: „Die ersten Abzüge segelten schon durch das offene Fenster in den Müllcontainer, da informierte jemand den Kreisheimatpfleger, der die Bilder rettete, auf dem Dachboden einlagerte und ordnete.“

Damit möchte ich an dieser Stelle das Denkmal für den unbekannten Informanten einfordern.

Nur diesem ist es zu verdanken, daß überhaupt eine sachkundige Person wie der Kreisheimatpfleger eingeschaltet wurde und wir heute überhaupt über Alfeld und Püscher schreiben können.

Digital wäre es damit wohl schon vorbei gewesen. Aber die Aufarbeitung mit Förderung ermöglichte es nun, diese fotografische Geschichtsschreibung zugänglich zu machen.

Man hat der Stadt dadurch einen Teil ihres Gedächtnisses zurückgegeben und der Nachwelt zugänglich gemacht. Und dies in sichtbarer Form.

Der Alltag bestimmt das Leben.

Wohnen, Kaufen, Feiern sind aber Ausdruck der Verhältnisse, in denen man steckt.

Und so sieht man in den Fotos das, was in Alfeld war – und ist?

Beide Bücher zeigen durch die festgehaltenen Blicke der Fotografen das Leben in der jeweiligen Stadt.

Fotografen schreiben die Geschichten fotografisch auf. Sie sind weder die Chronisten noch die Journalisten. Sie waren in diesem Fall die visuellen Geschichtsschreiber, die durch ihre Sicht festhielten was sie sahen und wo sie waren. Sie stellten die Motive der Fotos zusammen und hielten so den Zeitgeist fest.

Und auch für Alfeld ist die Sammlung Püscher offenkundig nun ein Hort der Kreativität geworden, der die gesamte Szene mit Heimatkunde, Lokalgeschichte und Nostalgie nach dem Alten belebte.

Geschichte  bietet also mehr als nur den Blick zurück. Sie ist Quelle für Tourismus und Identität, sie schafft Welten und ermöglicht Blicke auf Zusammenhänge. Sie hilft die Gegenwart zu verstehen und das Leben interessant zu machen.

Ich persönlich bin erstaunt wie „gleich“ französische und deutsche Portraits wirken bis tief ins 20. Jhrdt. hinein. Man betrachte bloß einmal Porträts von August Sander im Vergleich zu denen von Clergeau.

Das näher zu betrachten wäre aber einen anderen Artikel wert.

Damals gab es noch keine EU aber vielleicht mehr Europa im Sinne gemeinsamer Fundamente in Kultur und Religion jenseits der Wunden politischer Kriege als heute.