Veröffentlicht in Bergisches, Essay, Zeitgeschichte

Die verlorenen Bibliotheken und das Körnchen literarisches Gold

Sind die Bücher die Welt? Will ich eine Welt ohne Bücher?

Ich bin mit Büchern aufgewachsen. Ich habe immer gelesen. Das half mir alle äußeren Stürme zu überstehen.

Sehr dankbar bin ich zwei Buchhändlern. Beide hatten kleine Buchhandlungen in Remscheid und beide zeigten mir die Literatur, die es auf der Schule nicht gab. Dort gab es weder Abert Camus noch Gustav Regler – hier schon.

Und später?

Seltsamerweise fand ich die besten Bücher immer in der Ramschkiste. „Die verlorenen Bibliotheken und das Körnchen literarisches Gold“ weiterlesen

Veröffentlicht in Buch, Neuzeit

Die Salonieren und die Salons in Wien von Helga Peham

Ein Salon bildet sich um eine gebildete, geistreiche Frau, die Salonière.

So beginnt das Buch von Helga Peham.

200 Jahre Geschichte einer besonderen Institution lautet der Untertitel.

Er entführt uns in eines der interessantesten Themen der Kulturgeschichte der Stadt Wien.

Folgerichtig erzählt sie dann das Leben der bekanntesten Salonièren von Wien.

Charlotte von Greiner, Fanny von Arnstein, Karoline Pichler, Henriette Pereira, Josephine von Wertheimstein, Rosa von Gerold, Berta Zuckerkandl, Alma Mahler-Werfel und Anna Mahler, Marie Lang, Lina Loos, Gina Kraus, Grete Wiesenthal, Eugenie Schwarzwald lauten die Namen, die heute keiner mehr kennt.

Die Nazis machten auch diese soziale Kultur kaputt und nach dem 2. Weltkrieg gab es keine Menschen mehr, die daran anknüpften.

Es ist ein Buch über Frauen. Es ist aber auch ein Buch über Männer, weil Männer und ihr Reichtum die Voraussetzung für diese Art des Treffens waren.

Geschichten über Liebe und Politik füllen so ein Buch, das dennoch historisch sachlich informiert und einen guten Beitrag zur Sozialgeschichte der Stadt Wien liefert.

Die Salons waren Treffpunkte und Kommunikationsknoten in einer besonderen Art. Hier trafen sich Menschen und erlebten die Gegensätzlichkeit im Miteinander.

Peham gelingt es, geistreiche Porträts zu malen und zugleich ein Panorama der Stadt Wien und ihres kulturellen Zeitgeistes zu entwerfen.

Die Begegnung mit vielen Schriftstellern des 20. Jhrdts. im Salon zeigt, wie wichtig persönliche Kontakte für den Aufstieg waren – neben dem richtigen Milieu.

Wien ist eben eine besondere Stadt gewesen und dies war einer ihrer hervorstechendsten kulturellen Charakterzüge – neben den Kaffeehäusern.

Gut gemacht Frau Peham!

Das Buch ist bei styria erschienen.

Die Salonieren und die Salons in Wien. 200 Jahre Geschichte einer besonderen Institution von Dr. Helga Peham
ISBN: 978-3-222-13448-7

 

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Sex reicht nicht – Globalisierung und Großmachtpolitik

Digitalisierung, Globalisierung und Neoliberalisierung sind die drei neuen Elemente einer Welt, die die Macht neu verteilt.

Sie ist genau so ungerecht wie früher und die Profiteure sind nur teilweise anders.

  • Die Digitalisierung hat dazu geführt, immer mehr Informationen überall schnell verbreiten zu können.
  • Die Globalisierung mit dem Zerstören von Schutzschranken hat dazu geführt, daß immer mehr Länder immer größere soziale Probleme haben.
  • Die Neoliberalisierung hat dazu geführt, daß die asozialsten Eigenschaften der Menschen auch in den Demokratien, die gekoppelt sind mit Menschenrechten, gesetzlich Vorrang vor sozialem Schutz erhalten.

Arbeit wird billig wie Dreck, wenige haben immer mehr, immer mehr haben immer weniger und die Zerstörung der Menschenrechte in den Verfassungen durch neoliberale Arbeitsgesetze wie Zeitarbeit, Niedriglöhne und fehlender Schutz bei Krankheit und Armut im Alter führen dazu, daß die Menschen sich vom Staat verabschieden und bei den Religionen oder woanders(?) ankommen.

Hinzu kommen die neuen alten Spiele der Großmächte, besser der alten und der neuen Großmächte.

Demokratie war immer nur für das eigene Land, drumherum war die Diktatur Teil des Systems. Das geschieht heute wieder nur sind außer Amerika und Russland auch China und Indien dabei.

Als die USA sich weigerten, Russland in Libyen nach Gaddafi einen Einflußbereich zu lassen, war dies der wohl größte Fehler einer alternden Großmacht.

Dieser Großmacht stehen nun neue Großmächte gegenüber. Beide haben keine Demokratiemodelle sondern Wohlstandmodelle. Putin regiert als Halbdiktator und die Partei in China regiert als Parteidiktatur. Beide brauchen weder Hedgefonds noch von Mckinsey oder Roland Berger (oder wie sie heissen) infiltrierte europäische oder deutsche neoliberale Politikratschläge.

Deren Interessen sind elitebestimmt unter anderen Voraussetzungen mit denselben Zielen: mehr für mich.

Und dennoch ist dies nur die halbe Wahrheit. Denn ein halber Diktator ist ehrlicher als eine Demokratie mit wenig Einfluss der Wähler und viel Einfluss der Berater und Beamten. Insofern ist die Frage der Demokratie eine Frage der Umsetzung des Wählerwillens.

Wenn in Deutschland eine 5 Prozent Partei, die FPD, über Jahrzehnte mehr Einfluss hat als die Oppositionsparteien mit 30 Prozent, dann ist dies genau so verlogen. Und wenn Beratungsgesellschaften es schaffen, den Wählerwillen auszuschalten und ihren Klientenwillen durchzusetzen, dann hat das mit Demokratie nichts mehr zu tun.

Das zeigt das Scheitern des Repräsentationsprinzip in der Demokratie, nicht der Demokratie.

Daran könnte man viel ändern.

Die Schweiz ist das einzige Vorbild, das bleibt. Demokratie bedeutet, die Menschen können durch Volksentscheide immer wieder das demokratische System erneuern und klar steuern – nicht über Nacht aber langfristig. Ein kluges Modell.

Und natürlich eine freie Presse und geschützte Meinungsfreiheit. Solange sie einigermassen frei ist. Wenn ihre Besitzer aber die neuen Hugenbergs in neoliberalen Zeiten sind, dann hiflt sie auch nicht. Deshalb ist es wichtig, eine freie Presse zu haben – gerade in schweren Zeiten.

Und nun?

Nun leben wir wieder einmal in einer geschichtsträchtigen Zeit und können sagen wir sind dabei gewesen.

Dieses mal ist es aber nicht die Französische Revolution und Goethes Campagne in Frankreich.

Dieses Mal ist es eine neue Welt, die entsteht und die noch keine Antwort auf die Fragen hat, die man ihr seit 30 Jahren stellt. Aber aus deutsch-europäischer Sicht wird es langsam ernst.

Denn unser Wohlstand ist in diesem zusammenbrechenden System rund um Europa mit materieller Wertelosigkeit als Lebensmuster nicht aufrecht zu erhalten.

Statt Banken zu retten sollten Politiker, die noch etwas Zukunft wollen, nun die Demokratien in Europa retten. Denn sie selbst wären doch die ersten Schlachtopfer.

Dazu gehören Gesetze, die endlich wieder Wohlstand, Ausbildung und Arbeit für alle ermöglichen. Es ist die einfache Rückkehr zur Absicherung bei Arbeitslosigkeit und im Alter und neu sollte der Anspruch auf Ausbildung und gemeinwohlorientierte Arbeit für Arbeitslose sein, sozialversichert und anständig bezahlt.

Das löst Integrationsprobleme, gibt der Jugend Zukunft und Einbindung in die Demokratie und ermöglicht eine lebendige Alternative zu religiösem Fanatismus und Diktaturmodellen. Die Fackel der Freiheit würde leuchten auf dem Boden der sozialen Sicherheit und der Beteiligung auf Augenhöhe.

Das bedeutet aber auch die Abschaffung der bösartigen und perversen Hartz 4 Gesetze, die Menschen durch das Aufzehren ihrer Ersparnisse in Armut treiben, Kinderkriegen belohnen und Arbeit unter dem Existenzminimum erzwingen, wenn man keine Kinder kriegt.

Das ist der Geist, der auch gutmütige Menschen zu Fanatikern machen wird.

Das kann man aus der Geschichte lernen. Das ist auch möglich.

Aber es wird nur gehen, wenn man denen etwas wegnimmt, die aktuell von der Situation profitieren.

Gerechtigkeit kommt nicht von selbst und das Zähmen der internationalen Konzerne und des internationalen Finanzsystems ist die einzige Möglichkeit, um nicht im absoluten subkutanen Kriegszustand zerrieben zu werden.

Wenn immer mehr Länder Interkontinentalraketen haben um sich mit Atomsprengköpfen zu zerstören, dann ist die Bedrohung groß aber sinnlos.

Die Teilverseuchung der Welt ist nach Tschernobyl und Fukushime schon da und nicht begrenzbar.

Selbst Krieg als Lösung scheidet aus, weil man Strahlung nicht bekämpfen kann, weder religiös noch finanziell.

Es wird nicht so weitergehen, wenn es so weitergeht.

„Oberstes Ziel ist das Überleben, gefolgt von Sex.” So der Psychoanalytiker Paul Verhaeghe.

Ficken reicht aber nicht mehr, um uns über den Stand der Tiere zu erheben.

Das kann nur eine Lösung sein, wenn man nicht mehr weiter weiß.

Es wird nicht reichen, wenn wir mehr wollen und die Höhle des neuen Neandertalers gegen eine gemeinsame soziale Welt eintauschen möchten.

Dann brauchen wir eine Rückbesinnung auf das, was gut war.

Soziale Sicherheit, Anerkennung von Völkern und Kulturen und ihren Eigenheiten, klare Regeln für klare Leistungen und Werte, die wir leben wollen.

Es ist auch eine Erfahrung, daß erst nach einem Krieg Banken und industrien und Medienkonzerne vergesellschaftet oder zerschlagen werden, weil man sieht, was sie angerichtet haben.

Nun gut, jetzt haben wir den Salat.

Ich habe 30 Jahre erlebt, daß Menschen eben nicht im Vorfeld so handeln, damit Katastrophen nicht eintreten, sondern das Gegenteil der Fall ist.

Mein Engagement für Aufklärung über 30 Jahre ist gescheitert und deshalb kann ich so frei darüber schreiben, weil ich mich endlich jenseits der Illusionen bewege.

Das tut nicht so weh wie gedacht aber es ist doch schmerzhaft. Ich hätte mir eine bessere Welt gewünscht und deshalb habe ich hier noch mal aufgeschrieben, wie einfach es wäre, dorthin zu kommen.

Be happy!

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Die Front der kleinen Leute: Das Auge des Arbeiters und die Arbeiterfotografie

Die Arbeiterfotografie ist gestorben, die Probleme sind geblieben, dachte ich so bei mir.

Die Konzeption und die Ausstellung „Das Auge des Arbeiters“ sind sehr beeindruckend.

Die städtischen Kunstsammlungen Zwickau sind bzw. waren ein beeindruckender Rahmen für diese Ausstellung. Zwickau ist eben ein besonderer Ort, der immer wieder besonderes zu bieten hat.

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Hat es überhaupt seit der deutschen Einheit eine so gute Ausstellung zur Geschichte der Arbeiterfotografie gegeben?

Was hier mit Sachverstand und Glück und dem Willen zur digitalen Dokumentation als Teil der deutschen Geschichte dargestellt wurde, wird zumindest in die Annalen der guten Ausstellungen eingehen.

Die Ausstellung „Das Auge des Arbeiters“ war sehr beeindruckend. Ich fragte eine Dame nach ihren Eindrücken. Sie sagte mir, sie hätte rausgehen müssen, weil die Eindrücke zu stark waren. Daraus entwickelte sich ein sehr langes und fruchtbares Gespräch.

Gerade die Kombination mit den Gemälden der jungen Wilden zeigt paralleles Leben in einem gleichen Zeitabschnitt ohne miteinander vernetzt zu sein.

Die Ausstellung zeigt auch, wie sehr sich die Menschen mit Industriearbeit und Arbeitslosigkeit beschäftigten und wie die Armut und die Hoffnungslosigkeit das Gesicht der kleinen Leute prägte.

Beeindruckende thematische Anordnungen, starke Fotos in schwarzweiss, Themen, die bis heute wirken – alles dies zeigt diese einzigartige Ausstellung.

Wohl durchdachte Themenblöcke geben dem Besucher Einblicke in einen Bereich einer längst vergangenen Zeit.

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke

Ich war fasziniert von den Fotos, die von 1929 bis 1992 reichten.

Der Alltag und die Einzelschicksale, politische Kämpfe und ihre Folgen sind die Themen, die damals wie heute vorhanden sind aber heute von den meisten Menschen anders wahrgenommen werden.

1992 hört es in der Ausstellung fotografisch auf. Eine vielleicht sehr reale Sichtweise.

Denn die Selbstdarstellung der Arbeiterklasse wurde um 1930 zu einer Form der gesellschaftlichen Emanzipation.

Das Klassenbewußtsein, das „Wir“, ist heute weg: die gemeinsame Wohnwelt, Arbeitswelt und Sozialwelt.

Das Selfie als reine Ich-Wahrnehmung ist da.

Objektiv sind die sozialen Unterschiede aber vorhanden und sogar wieder stärker geworden.

„Klassenunterschiede“ gibt es noch, wenn auch anders ausgedrückt und ohne gemeinsames Bewusstsein als materiell vorhandene soziale Unterschiede von Schichten, Lebensverhältnissen, Chancen.

Die Ausstellung „Das Auge des Arbeiters“ ermöglicht gerade durch ihre klare Darstellung dessen, was die Künstler und Arbeiterfotografen um 1930 fotografierten, zeichneten und malten einen wunderbaren Spiegel der Geschichte, der die Gegenwart umso deutlicher werden läßt.

Früher war die Industriearbeiterschaft die stärkste Gruppe von Menschen, die zugleich ein produktiver Teil des Gemeinwesens war. Heute sind immer weniger Menschen für diese Arbeit erforderlich und zugleich leben immer mehr Menschen unterschiedlichster Kulturen mit verschiedenen Sprachen ohne Arbeit unter der Aufsicht der Jobcenter.

Die ungelösten Probleme der Zuwanderung, immer mehr Ältere ohne Arbeit und vor der Verarmung, entmutigende Widersprüche der Politik. Die Welt ist heute nicht besser: Errungenschaften wurden errungen und heute wieder verloren.

Spätestens bei der Frage, wie man heute Armut fotografiert, kommt man bei denselben Themen und fast identischen Fotos an.

Diese müssen aber durch andere Gesetze, neue technische Möglichkeiten und neue Vorgaben auch fotografisch neu beantwortet werden.

Die Ausstellung ermöglicht daher im besten Sinne Blicke zurück.

So sehen wir, was sich geändert hat und was geblieben ist.

Flugblatt-Collage Michael Mahlke
Flugblatt-Collage Michael Mahlke

Die Schminke ist anders, aber darunter sieht es noch genau so aus.

Die vielen neuen zivilisatorischen bunten Errungenschaften verdecken die Themen der Isolation, der technischen Kälte und der Kontaktarmut, die zu Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Trostlosigkeit führen.

Aber wer will schon die Wirklichkeit sehen und vor allem sich darüber klar werden, daß es schon einmal ähnlich bei uns war und die Zeit danach nicht alles besser werden ließ!

Denn genau dies zeigen die Fotos auch – wenn auch ungewollt.

Man merkt an den letzten Sätzen, daß ich die Ausstellung als sehr aktuell und sehr anregend für den Blick auf unsere Gesellschaft empfinde.

Zu der Ausstellung gibt es ein Buch mit einer solchen Fülle an guten Fotos und Aufsätzen, daß dieses Buch sicherlich zukünftig ein Fundament für dieses Thema sein wird.

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke

Die Ausstellung „Das Auge des Arbeiters“ zeigt starke sozialdokumentarische Fotografie und ist zugleich der beste Spiegel, um die Sinne zu schärfen für die Themen und Fotos, die heute fehlen.

Sie werden auch nicht mit Klassenbewußtsein entstehen, weil es diese Art des Zusammenhalts nicht mehr gibt.

Sie können aber entstehen aus sozialem Engagement und politischem Denken, das sich der Tradition engagierter Fotografie verpflichtet fühlt ohne ideologisch zu sein.

Das wäre dann das Neue in der Gegenwart.

Diese Ausstellung setzt konzeptionelle und fotografische Maßstäbe als Dokumentation und als Spiegel der Gegenwart durch den Blick in die Vergangenheit.

Man begibt sich nach der Ausstellung auf die Suche nach Motiven der neuen fotografischen Front von Armut und Verzweiflung in einer reichen Gesellschaft, die kalte Herzen und dicke Konten als Voraussetzung von Erfolg definiert wie eh und jeh.

Wer nach der Ausstellung den Schritt in die Gegenwart wagen will, der muß sich nur die Filme von Michael Glawogger anschauen und schon landet er/sie dort, wo die Ausstellung aufhört: in der aktuellen Darstellung des Mühsals der Arbeit und bei Verhältnissen, die Menschen ohne politisches Bewusstsein und ohne politische Aktivität mitverantworten. Man landet also mitten in der Politik, der Frage von Gesellschaft und dem Wert von Demokratie und den Voraussetzungen dafür.

Das Auge des Arbeiters wird in Zwickau, Köln und Dresden gezeigt.

Wer die Chance hat, sollte nicht verpassen, sie zu besuchen.

 

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Viele, viele bunte Nazis? – Der Bergische Löwe und das Geschichtsbewusstsein in Remscheid

 Anmerkungen zum Thema Öffentlicher Raum als Heimat

„Das Vertraute und Wiedererkennbare, das physisch Fassbare, an das Erinnerungen geknüpft werden und welches Gefühle auszulösen vermag: In unserem „kollektiven Gedächtnis“ sind sie, so der Philosoph Maurice Halbwachs, unverzichtbar.“

Dieser Gedanke von Robert Kaltenbrunner passt gut auf das Beispiel von Remscheid und die Remscheider Löwenparade 2014 und was dabei schief gehen kann, wenn man in historischer Unkenntnis bzw. Verkennung handelt.

Denn es kommt auf die richtige Zuordnung und die historische Wahrheit an.

Als im Jahr 1939 das Löwendenkmal auf dem Remscheider Rathausplatz eingeweiht wurde, war es ein nationalsozialistisches Kampfsymbol. Das sollte auch der Löwe zum Ausdruck bringen.

Zur Einweihung am 1. Mai versammelten sich 27.000 NSDAP Mitglieder aus Remscheid auf dem Rathausplatz. Das Foto ist auf dem Cover des Buches abgebildet.

Remscheid in der Zeit des Nationalsozialismus herausgegeben von Michael Mahlke
Remscheid in der Zeit des Nationalsozialismus herausgegeben von Michael Mahlke

Nun bietet die Architektur in Remscheid zunehmend keine Orientierung mehr.

„Denn alles was Stadtplanung bewirkt, bringe irgendwelchen Leuten Vorteile und anderen Nachteile. Damit aber müsse man „umgehen“. Und die Architektur übernimmt als räumliches System noch immer Ordnungsaufgaben innerhalb der Gesellschaft. Nur muss man sich dessen neu bewusst werden… Denn was sich seit 1945 urbanistisch durchsetzte – und nach wie vor gilt -, ist eine aus dem Funktionalismus abgeleitete Analyse- und Planungstechnik.

Sie ermöglichte und beförderte die Herausbildung unserer heutigen Siedlungsstruktur. Und das einzelne Haus wurde zum Bestandteil der Megamaschine Stadt, die durch ihre vielfältigen Ver- und Entsorgungstechnologien den Haushalt von zahlreichen Arbeiten entlastete, aber um den Preis einer immer stärkeren Belastung der natürlichen Umwelt.“

So Robert Kaltenbrunner in seinem Text zum Thema Raum und Heimat weiter.

Obwohl der Text ohne Kenntnis und Wissen von Remscheid geschrieben wurde, spiegelt sich faszinierenderweise genau dieser Funktionalismus in Remscheid sehr stark wieder.

Foto/Grafik: Michael Mahlke
Foto/Grafik: Michael Mahlke

Das ist aber noch nicht alles. Der Aspekt des Bewahrens ist dabei gerade in einem besonderen Spektakel zu sehen.

Ein Denkmal auf dem Rathausplatz wird als „Vorbild“ genutzt, um Bewahren und Identität zu bilden. Gerade die Symbolik ist dabei ja entscheidend.

Man nimmt ein von Nazis gemachtes Symbol als neues lokalpatriotisches Schlüsselsymbol für Remscheid.

In völliger Unkenntis oder Verkennung der geschichtlichen Bedeutung (Stadtarchiv ?) wurde hier eine Aktion geplant, die sich ohne Fachwissen oder echte Recherche als Event nach außen darstellen soll.

Wenn man sich überlegt, wie sonst ein erheblicher Teil der Öffentlichkeitsarbeit in Remscheid betrieben wird und welche Agenturen hier tätig sind, ist dies sehr bemerkenswert.

Als ob das nicht genug wäre, wurden schon im letzten Kommunalwahlkampf Löwen genutzt, um einen neuen Lokalpatriotismus aufzubauen. Die Bezüge zum Rathausdenkmal waren unübersehbar.

Die neue Remscheider Löwenparade 75 Jahre nach der ersten Löwenparade ist das Ergebnis dieses nicht vorhandenen historischen Bewusstseins.

Da es vor dem Rathaus steht und dies so geschehen ist, hat wahrscheinlich im Rathaus (und im Stadtrat?) niemand etwas davon gewusst?!

Plakativ symbolisiert “ der mißbrauchte Bergische Löwe“ genau den Zusammenhang. Gisela Schmoeckel hat dies in ihrem verlinkten Artikel wunderbar sachlich dargestellt.

Auf dem hier zu sehenden Plakat „Stolz auf Remscheid“ der SPD aus dem Kommunalwahlkampf 2014 sehen Sie übrigens beide Löwen. Der große Löwe erinnert sofort an das Rathausdenkmal der Nazis („Stolz auf Remscheid“!). Der Löwe auf der offiziellen gelben Plakette der Stadt zeigt den Bergischen Löwen, der aufrecht steht, so wie es Gisela Schmoeckel beschrieben hat.

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Wie massiv damit geworben wurde und wie umfänglich das war, sieht man hier ganz gut.

Wie man mit der Vergangenheit besser hätte umgehen können, formuliert sehr konstruktiv Christian Peiseler:

„Einfach ein Denkmal zu kopieren, das die Nationalsozialisten für ihre Herrenmenschen-Ideologie missbraucht haben, ist doch irgendwie recht simpel und einfallslos. Mit ein paar feinen Ideen hätte sich bestimmt leicht ein anderer Prototyp des Bergischen Löwen formen lassen, einer der freundlicher, weltoffener und gewitzter ist. “

Aber genau so ist es bisher nicht geschehen.

Dabei wachsen nun natürlich Fragen, die man hätte vermeiden können: Damals kamen 27.000 NSDAP-Mitglieder. Wie viele Menschen kommen heute? Wie viele davon sind …? Was werden sie zeigen? Kreatives Miteinander auf der Grundlage eines Nazi-gemachten Symbols? Viele, viele bunte Nazis? Der Beginn der Wiederkehr in anderer Form?

Gegenwart hat viel mit Geschichte zu tun. Wer wissen will, wohin er geht, muß wissen, woher er kommt. Hier wäre auch der Punkt gekommen, an dem über die niedrige Wahlbeteiligung (30%) bei der letzten Bürgermeisterwahl gesprochen werden müßte und ich fragen würde, ob es in Remscheid überhaupt politische Bildung gibt und wer dafür verantwortlich ist?

Denn es geht nicht um Löwen an sich sondern um diesen Löwen als Symbol für Ausgrenzung, Verfolgung, Krieg (wohin blickt er wohl?) und vieles mehr. Aber das spare ich mir.

Das Schlimmste wäre allerdings das Totschweigen. Das geht nicht mehr, weil es hier und woanders schon steht und darüber kein Gras wachsen würde sondern dies alles vielfach dokumentiert und publiziert würde.

Es ist in jedem Fall eine Konfrontation mit der Geschichte, die anders hätte stattfinden können und müssen, kreativer, historischer, weiterführender und politisch bewußter – auch in Schulen und im Stadtrat. So wurde daraus ein Lehrstück für fehlendes Geschichtsbewusstsein und historische Ignoranz:

Die lokale NS-Geschichte wurde in jedem Fall im öffentlichen Bewusstsein nicht aufgearbeitet trotz vorhandener Informationen (sogar online) und nun kommt sie hoch.

Nachtrag im Oktober:

Als ob dies alles nicht reichen würde. Die Wirklichkeit schlägt jede Phantasie. Nun wurden diese Löwen zusätzlich noch an den Verkehrsknotenpunkten in Remscheid aufgestellt.

Mehr dazu hier.

Als ob dies nicht genug ist hat die Verwaltung auch beschlossen, daß dieser „Kotzbrocken in Löwenform“ dauerhaft als Marketingobjekt überall aufgestellt  bleiben soll.

Und manche Kommentare bestätigen diesen Artikel hier so eindrucksvoll, daß sich jeder weitere Kommentar erübrigt. Ob es sich dabei eher um fehlendes Geschichtsbewusstsein oder das Relativieren historischer Wahrheit oder das Verleugnen historischer Tatsachen handelt und welches Interesse dahinter steht, wer weiß!

Text 1.3

Wenn die Zeitachse aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keine sichere Orientierung mehr bietet, sucht man den Fortschritt im Bewahren.

Robert Kaltenbrunner

Fortschritt?

Veröffentlicht in Bergisches, Zeitgeschichte

Remscheid in der Zeit des Nationalsozialismus – Rückblick auf ein Buch und seine Wirkung

Als ich 1995 im RGA-Buchverlag das Buch “Remscheid in der Zeit des Nationalsozialismus” herausgab hatte ich als Herausgeber und Mitautor eine arbeitsreiche Zeit hinter mir. Es gelang mir, über zwei Jahre hinweg 13 Autorinnen und Autoren zu gewinnen und zu koordinieren, so dass wir als Ergebnis einen Sammelband herausbringen konnten mit dem Titel “Remscheid in der Zeit des Nationalsozialismus.”

Das war nicht einfach, weil es schwierig und undankbar war und das Honorar bei 500 DM pro Beitrag lag, die als freiberufliche Einnahme versteuert wurde und danach ca. 280 DM blieben. Da jeder viele Stunden im Archiv sitzen mußte und dies alles sehr zäh war, hat im Ergebnis damals jeder draufgezahlt.

Aber darum ging es uns damals nicht. Aufklärung, Idealismus und Dokumentation waren das Dreieck der Motivation, um aus der Geschichte zu lernen und gegen das Vergessen zu schreiben.

Autorinnen und Autoren waren David Thompson, Michael Mahlke, Urs Diederichs, Karl-Manfred Halbach, Ulrich Kalhöfer, Marco Gaese, Frieder Backhaus, Hans Jürgen Roth, Jochen Bilstein, Ilse Faeskorn, Armin Breidenbach, Olaf Wunder und Ralf Schönbach. Es war in meiner Erinnerung das erste Mal, daß alle politischen Richtungen und Glaubensbekenntnisse so in einem Buch dargestellt werden konnten und auch zwischen den Beteiligten möglich waren.

Damals lernte ich, wie wichtig es ist, Autoren zu betreuen, immer wieder nachzufragen, Gespräche zu führen, bei Motivationsstop (gerade in solchen Themen) das Herz neu zu wecken und dann dies alles zu einem guten Ende zu führen.

Das Vorwort im Buch erinnert an die Personen, die alle noch mit dabei waren.

Und dann war das Buch fertig und ich war stolz, daß wir gemeinsam einen wichtigen Beitrag zur Lokalgeschichte der Menschen geliefert haben.

Es ging natürlich auch darum, die Verfolgten und aufrechten Demokraten zu nennen und auch darüber zu schreiben, wie die Banaliät des Bösen aussieht und welcher Abgrund von Gemeinheit und Feigheit sich auftut, wenn erst einmal die gesetzlichen und moralischen Schleusen geöffnet werden.

Das ist eine Parallele zur aktuellen Ideologie des Neoliberalismus, der auf das Schlechte im Menschen setzt, aber das ist eine andere Geschichte.

Bleiben wir bei dem Buch.

Bemerkenswert war, daß es auf das Buch fast keine echte Resonanz gab. Die ehemaligen Nazis und Mitläufer schwiegen es tot und die anderen waren entweder schon tot oder wollten fast alle nichts mehr davon wissen.

Das nennt sich Rezeptionsgeschichte.

Ich erhielt einige böse Anrufe, weil das Thema eben nicht angesprochen werden sollte, aber öffentlich wollte niemand diskutieren.

So steckt dieses Buch bis heute als unangenehmer Brocken in der Remscheider Geschichte fest und läßt sich nicht verleugnen. Aber eine echte Aufarbeitung fand kaum statt. Ich kann mich nicht an drei Lehrer erinnern oder an das Schulverwaltungsamt, die mal gesagt hätten, wir laden die Autoren ein, wir machen für alle Schulen Sitzungen und greifen dieses Thema auf.

Nur dort wo einzelne Lehrer sich engagierten, gab es kleine Denkanstösse.

In der Folgezeit habe ich mehrfach erlebt, daß dieses Buch selbst ein Fall für Geschichtsverleugnung wurde.

Mehrfach wurde ich einfach entfernt in Datenbanken und bei den Buchangaben. Ich war plötzlich kein Herausgeber mehr, kam bei den Autoren nicht vor und mußte sogar einige Male massiv nachlegen, damit diese Hinterhältigkeiten ausgemerzt wurden.

Das interessiert zwar kaum noch, ist aber dennoch diese Sätze wert, weil es zeigt, daß die Wirklichkeit und die Geschichte bis heute (!) eher verleugnet als angenommen werden.

In ein paar Monaten ist es zwanzig Jahre her, seitdem dieses Buch erschienen ist. In meiner Erinnerung waren es damals 2.000 Exemplare – so wenig Exemplare wie kein Buch zuvor, das ich publiziert habe. Da es immer noch zu haben ist, sind also in 20 Jahren keine 2000 Exemplare verkauft worden. Auch das sagt viel über den Wert von Geschichte und den Umgang mit Wunden aus, zumal damals.

Wenn ich es aufschlage stelle ich fest, daß es ein Buch von bleibendem Wert ist. Wir haben damals richtig gehandelt. Es hat Substanz und ist mit dem Mut zur Lücke entstanden. Es wird Zeit, daß die Lücken geschlossen werden, bevor alles unauffindbar wird.

Veröffentlicht in Alle, Zeitgeschichte

Fotos als historische Quellen zwischen Information und Wissen

„Informationen werden mitgeteilt, Wissen erwirbt man durch Bildung.“ Diesen Satz habe ich schon oft zitiert aber er muß immer wieder ins Gedächtnis.

Die Informationen sind da – auch zum Umgang mit Fotos.

Wie schreibt die Bundeszentrale zur politischen Bildung?

„Fotografien sind jedenfalls für die Ereignisgeschichte die besten Quellen. Nehmen wir das Beispiel einer Demonstration: Wir können sehen, dass sie überhaupt stattgefunden hat, welche Ziele sie hatte (wenn Plakate oder Spruchbänder erkennbar sind), welche (vielleicht anderweitig schon bekannten) Personen dabei waren, wo sie sich aufhielten, wie zahlreich die Menge, wie ihre Stimmung war. Vorsichtig müssen wir freilich sein, wenn wir Deutungen und Verallgemeinerungen vornehmen wollen. Denn ein einzelnes Bild zeigt immer nur einen Einzelfall. Um beurteilen zu können, ob er repräsentativ ist, müssen wir entweder über mehrere ähnliche bildliche Darstellungen oder über zusätzliche Informationen verfügen. Wenn Fotos aus dem Jahre 1914 kriegsbegeisterte Freiwillige zeigen, folgt daraus nicht zwangsläufig, dass alle begeistert waren; die Forschung hat in jüngerer Zeit entsprechende Relativierungen vorgenommen. Wer nicht begeistert war, blieb zu Hause – davon gibt es keine Bilder. Bildquellen können also in diesem Fall kein vollständiges Bild der historischen Situation vermitteln.“

So wunderbar die Webseiten der Bundeszentrale sind – so wenig haben sie Relevanz.

Die tägliche Medienwahrnehmung der Menschen ist geprägt durch die Informationskanäle, die im Handy, manchmal in der Zeitung und im Fernsehen zu finden sind. Ja sicher auch im Internet.

Aber insgesamt sind es starke vorgegebene Einstiegswege, die meistens den Rest der Wahrnehmung prägen.

Und es sind eben Informationskanäle.

Man ist informiert.

Mehr nicht.

Erst wenn ich mich tiefer mit diesen Informationen beschäftige, kann daraus Wissen werden.

Wissen ist die Anwendung von Informationen und die Umsetzung.

Wenn Sie das nächste Mal ein Foto sehen und sich fragen,

  • was soll dieses Foto bei mir auslösen,
  • was löst es aus,
  • was springt ins Auge
  • von wem stammt das Foto
  • welche Interessen stecken dahinter

dann wenden Sie die Informationen an, die Sie aus den Informationen hier und bei der Bundeszentrale erhalten haben.

Dadurch wandeln sich die Informationen zu Wissen. Es ist die Verschmelzung von äußeren Reizen mit ihren inneren Wahrnehmungen, die durch Sehen, Fühlen und Denken zu einem Eindruck und einer Meinung führen.

Dadurch bilden Sie sich eine Meinung und nehmen nicht unkritisch hin, was angeboten wird.

Kritik kommt übrigens vom griechischen krinein und meint unterscheiden. Sie lernen also unterscheiden und nehmen die Dinge in ihrer Unterschiedlichkeit wahr.

 

Veröffentlicht in Buch, Zeitgeschichte

Fotografie und Geschichte von Jens Jäger

Geschichte altert nicht. Das gilt auch für dieses Buch. Zwei große Themen der Menschheit, die Geschichte als Erinnerungskultur und die Fotografie als visuell-mechanische Erfassung der Welt, werden hier besprochen.

Kann man eine Rezension über ein Buch schreiben, das Pionierarbeit leistet? Eigentlich eher nicht, es sei denn, man zeigt die Tiefe und Weite. Fabian Schwanzar hat dies getan und die Einordnung gefällt.

Der Verlag bietet einen Einblick in das Buch, der ebenfalls Lust auf mehr macht.

Wenn man nun den Weg in dieses Buch geht, dann verirrt man sich nicht.

Denn das Buch ist der Versuch, eine textliche Landkarte des Wissens über dieses Thema zu erstellen.

Die Landkarte ist gelungen, das Buch großartig und der Lesewert sehr hoch.

Natürlich geht es hier um Bücher, die aus wissenschaftlicher Sicht das Thema behandeln.

Besonders gefällt dabei der Versuch von Jens Jäger, die Verschiedenartigkeit der Wissenschaften mit einzubeziehen.

Was wissenschaftlich ist und war unterliegt dann doch erheblichen Schwankungen und ist immer sozial und kulturell geformt.

Jäger wird für mich besonders interessant, wenn er zur Realienkunde zurückkehrt und damit die gesammelten Luftblasen der fotografischen PR-Kultur auf den Boden der Wirklichkeit zurückführt.

Im Gegensatz zu den vielen Vielschreibern beginnt meine Sympathie für ihn aber schon bei dem Kapitel über die „Klassiker“ dieses Genre:

  • Walter Benjamin
  • Gisele Freund
  • Siegfried Kracauer
  • Susan Sontag
  • Robert Taft
  • Roland Barthes
  • Pierre Bordieu

Das war´s.

Damit sind alle wesentlichen gedanklichen Instrumente zur Verfügung gestellt, um das zu tun, was historische Bildforschung tun kann:

„Historische Bildforschung zielt nicht auf eine wesensmäßige Erfassung bestimmter Bildtypen, sonder auf die historischen Bedingtheiten und Bedeutungen der Bilder und ihrer Wahrnehmung.“

Die Klassiker sind dabei vielfach Texte mit eigenen Erfahrungen, Essays und Feuilleton. Interessanterweise sind sie noch nicht wegen fehlender Fußnoten verpönt, was auch einen Hinweis auf unsere heutige Situation und ihre historische Bedingtheit beinhaltet.

Die Frage ist nur, ob das, was heute als Klassiker ohne Fußnoten gilt in ähnlicher Form heute überhaupt zur Kenntnis genommen würde. So ist dieses Buch auch eine Auseinandersetzung mit der heutigen Wirklichkeit aus historischer Perspektive.

Jägers Buch ist als historische Einführung im Campus-Verlag erschienen. Es ist aber mehr als eine Einführung. Da hat der Verlag untertrieben. Das Buch ermöglicht einen echten Überblick, weil Jäger mit dem Mut zur Lücke geschrieben hat.

Aber er verleugnet es nicht sondern der Verlag und er haben durch die Möglichkeit der Verlinkung über die Webseite die Erweiterung angelegt und das Vertiefen zugänglich gemacht.

„Fotografie ist eine soziale Praxis und als solche kulturell bestimmt. Sie findet stets in gesellschaftlichen Kontexten statt und gewinnt ihre Bedeutung daher nicht aus sich selbst heraus sondern durch Zuschreibungen und Verwendungszusammenhänge.“

Das ist die Lupe mit der Jäger dann in seinem Buch die Themen, Ergebnisse und Problemfelder der Forschung darstellt, so wie sie sich ihm zeigen.

Wer sich für Fotografie und Geschichte interessiert und wissen will, wie man das Ganze wissenschaftlich sieht, der findet hier ein für das Thema erstaunlich leicht zu lesendes Buch, das sich eher durch klare Worte auszeichnet statt dem Fachsprachengewirr neuen Raum zu bieten. Ein Beispiel:

„Wie bei der Visual History bieten auch die Ansätze der Visual (Culture) Studies und viele Untersuchungen, die sich auf den visual oder pictorial turn berufen, kein geschlossenes methodisches System. Das gilt ebenso für die visuelle Anthropologie und Zugänge, die unter Bildwissenschaft oder auch der Historischen Bildforschung subsummiert werden. Der Bezug auf diese Strömungen gibt eher den Rahmen ab, in dem sich die Untersuchungen bewegen, und unterstreicht die Bedeutsamkeit, die visuellem Material beigemessen wird (manchmal allerdings mehr Bekenntnis als praktisch durchgeführt).“

So entknotet er die fachsprachlichen Phrasen und landet bei verständlichem Deutsch.

Das Buch ist im Campus-Verlag erschienen und noch zu haben.

 

 

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Von Erinnerungsträgern zu Trägern der Erinnerung – Fotos erzählen Alltagsgeschichte zwischen Pontlevoy und Alfeld

Geschichtsschreibung hat nicht nur etwas mit Schreiben zu tun. Gerade bei Fragen des Lebens sagt ein Bild oft mehr als tausend Worte.

Ich möchte hier auf zwei Bücher eingehen, die sehr unterschiedlich und doch sehr gleich sind.

Louis Clergeau war Uhrmacher und Fotograf in dem Ort Pontlevoy. Dort fotografierte er schon vor dem Ersten Weltkrieg und tat dies bis 1936.

So entstand das Bild vom Leben in einer Kleinstadt, dessen Momente der Fotograf festhielt und die seinen Blick und seine Auswahl wiedergeben.

Heute ist das Street Museum fester Bestandteil des Ortes, um die Geschichte zu zeigen und Besuchern auch visuell darzustellen, was dort ist und was dort war.

Fotografisch ist die „Strassenfotografie“ im weiteren Sinne von Louis Clergeau also ein Glücksfall für den Tourismus und für die Kultur- und Alltagsgeschichte des Ortes gewesen.

Geschichtsbewusstsein entsteht im Kopf oft erst durch die Chance, das zu sehen, was früher war.

Fotos ermöglichen dann in den jeweiligen Bereichen den Vergleich und ermöglichen auch Bewertungen.

  • War früher alles schlechter,
  • wie hat man das damals geregelt,
  • warum lebte man früher so?

Im Prinzip ist dies alles aber dem Zufall zu verdanken, der anhand der Lebensgeschichte eines Fotografen und seiner Tochter dem Ort dieses fotografische Gedächtnis zufallen ließ.

Und dem glücklichen Umstand, daß die Doofheit nicht siegte und dies alles entsorgte sondern die Trägheit die entscheidende Kraft war, die zum Glück das Bewusstsein wachsen ließ, sich damit doch näher zu beschäftigen.

Genau so ein Geschenk hat die Stadt Alfeld (Leine) erhalten. Im Buch „Eine Stadt auf Fotopapier“ wird das Leben in dieser Kleinstadt von 1947 bis 1994 gezeigt.

Zwei Fotografen, Vater und Sohn, hielten es fest.

Nach ihrem Tod waren die Fotos fast schon weg. Auch hier waren es mehr als glückliche Umstände: „Die ersten Abzüge segelten schon durch das offene Fenster in den Müllcontainer, da informierte jemand den Kreisheimatpfleger, der die Bilder rettete, auf dem Dachboden einlagerte und ordnete.“

Damit möchte ich an dieser Stelle das Denkmal für den unbekannten Informanten einfordern.

Nur diesem ist es zu verdanken, daß überhaupt eine sachkundige Person wie der Kreisheimatpfleger eingeschaltet wurde und wir heute überhaupt über Alfeld und Püscher schreiben können.

Digital wäre es damit wohl schon vorbei gewesen. Aber die Aufarbeitung mit Förderung ermöglichte es nun, diese fotografische Geschichtsschreibung zugänglich zu machen.

Man hat der Stadt dadurch einen Teil ihres Gedächtnisses zurückgegeben und der Nachwelt zugänglich gemacht. Und dies in sichtbarer Form.

Der Alltag bestimmt das Leben.

Wohnen, Kaufen, Feiern sind aber Ausdruck der Verhältnisse, in denen man steckt.

Und so sieht man in den Fotos das, was in Alfeld war – und ist?

Beide Bücher zeigen durch die festgehaltenen Blicke der Fotografen das Leben in der jeweiligen Stadt.

Fotografen schreiben die Geschichten fotografisch auf. Sie sind weder die Chronisten noch die Journalisten. Sie waren in diesem Fall die visuellen Geschichtsschreiber, die durch ihre Sicht festhielten was sie sahen und wo sie waren. Sie stellten die Motive der Fotos zusammen und hielten so den Zeitgeist fest.

Und auch für Alfeld ist die Sammlung Püscher offenkundig nun ein Hort der Kreativität geworden, der die gesamte Szene mit Heimatkunde, Lokalgeschichte und Nostalgie nach dem Alten belebte.

Geschichte  bietet also mehr als nur den Blick zurück. Sie ist Quelle für Tourismus und Identität, sie schafft Welten und ermöglicht Blicke auf Zusammenhänge. Sie hilft die Gegenwart zu verstehen und das Leben interessant zu machen.

Ich persönlich bin erstaunt wie „gleich“ französische und deutsche Portraits wirken bis tief ins 20. Jhrdt. hinein. Man betrachte bloß einmal Porträts von August Sander im Vergleich zu denen von Clergeau.

Das näher zu betrachten wäre aber einen anderen Artikel wert.

Damals gab es noch keine EU aber vielleicht mehr Europa im Sinne gemeinsamer Fundamente in Kultur und Religion jenseits der Wunden politischer Kriege als heute.

Veröffentlicht in Alle, Zeitgeschichte

Die Didaktik der Fotografie und die Geschichtsdidaktik – Geschichte(n) erzählen heute

Blickt man zurück, dann war Historix bzw. der Geschichtstrainer lange Zeit das erste elektronische Geschichtslernprogramm, das eine komplette Methodik und Didaktik dabei hatte.

 

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Damals dachte ich noch mehr an Wissen als Faktenwissen in Textform. Mittlerweile hat sich die Welt geändert und immer mehr Fotos bestimmen den Zugang zum “Wissen” überhaupt.

Der LWL (Landschaftsverband Westfalen-Lippe) hat einen sogenannten didaktischen Kommentar veröffentlicht zum Thema “Wie Fotos Geschichte erzählen”. Nach Mareen Kappis geht es darum, unter Nutzung des LWL-Bildarchivs eine historische Fotoanalyse durchzuführen: “Der Lehrer selbst oder aber ein Schüler bedient das Programm. Die ganze Klasse kann sich an einer gemeinsamen Analyse beteiligen. Die Arbeitsaufträge, die das Programm bereitstellt, können im Klassengespräch oder in Einzel-, Partner- sowie Gruppenarbeit erledigt werden. Eine zweite Nutzungsmöglichkeit ist die schülerzentrierte, die mehr der Idee des entdeckenden Lernens entspricht. Dazu sind mehrere Medienarbeitsplätze nötig, im Idealfall einer für jede Schülerin und für je- den Schüler. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten eigenständig mit dem Programm, bearbeiten die Aufgaben und halten ihre Ergebnisse in dafür vorgesehenen Eingabefenstern fest. Anschließend können Arbeits- ergebnisse im Klassengespräch ausgewertet werden. Zusätzlich sind verschiedene Ausgabeoptionen wie das Speichern der eigenen Fortschritte in einer Text- oder PDF-Datei oder aber das Ausdrucken geplant. ”

Was mir an dem Manual gefällt ist die Systematik, die zeigt, wie man ein Foto analysieren kann, um historisches Urteilsvermögen und Bildkritik aufzubauen. Es ist Didaktik pur (auch Methodik) und gut nutzbar.

Das sollte man im Blick haben, wenn man sich dem nächsten Schritt nähert.

Der WDR hat kostenlos ein Tool ins Netz gesetzt, mit dem man dynamische Fotogeschichten erzählen kann:

“Interactive Storytelling” steht für eine moderne Art, multimediale Präsentationen mit Webtechniken zu erstellen. Eine ganze Reihe von aufwendig erstellten Reportagen im Online-Journalismus sind in letzter Zeit veröffentlicht worden. Eine Einführung in das Thema mit Beispielen findet sich in diesem Artikel der Webkrauts.

In Zusammenarbeit mit dem WDR haben wir ein Tool entwickelt, welches Journalisten die Möglichkeit gibt, sich bei der Erstellung solcher Reportagen auf den Inhalt zu konzentrieren. Pageflow funktioniert dabei wie ein „Mini-CMS“, das speziell dafür ausgelegt ist, bildschirmfüllende Bilder oder Videos mit Textelementen zu einem Erzählfluss zu verschmelzen.

MULTIMEDIAL

Pageflow verbindet Videos, Bilder, Audio und Text zu interaktiven Reportagen.

RESPONSE

Reportagen werden auf Desktop-Monitoren und mobilen Endgeräten optimal dargestellt.”

Interessant ist, daß beide Tools nichts miteinander zu tun haben aber für qualitatives Arbeiten gegenseitig eigentlich unerläßlich wären.

Wer also mit Pageflow arbeitet hat in der Regel keine Ahnung von Didaktik im Bereich der Fotografie oder von Didaktik überhaupt.

Meiner Meinung nach ist die Didaktik das Scharnier zwischen den Materialien und der Aufbereitung. Pageflow ohne Didaktik (und Methodik) ist daher kaum denkbar.

Das Manual und das Tool wurden meiner Vermutung nach durch öffentlich-rechtliche Institutionen entwickelt, also wahrscheinlich mit Steuergeldern bezahlt.

Deshalb stehen sie auch kostenlos zur Verfügung.

Der Vorteil ist dabei sicherlich, daß nun jeder, der will, sich fotografisch weiterbilden kann und zugleich mit dem neuen Wissen gute Geschichten entwickeln kann.Der Nachteil ist, daß dies alles im Meer der visuellen Welt kaum auffallen wird.

Wenn es aber gelingt, die Macht der Bilder mit einem kritischen Blick wahrzunehmen, wäre viel erreicht.

Ohne nun einen umfassenden Überblick über Storytelling zu liefern möchte ich doch noch auf ein anderes Tool (Werkzeug) und andere Varianten hinweisen.

In meinem Artikel Fotostory habe ich schon vor ein paar Jahren auf die damals aktuellen Varianten und die praktische Umsetzung hingewiesen. Besser ist nichts geworden – nur neuer.

Gerade Soundslides ist in meinen Augen das beste Werkzeug, um diszipliniertes Arbeiten zu lernen, Inhalte auszuwählen, Rhythmus und Tempo in eine Erzählung zu bringen und Inhalte zu komponieren. Es zwingt fast zu methodischem und didaktischem Vorgehen.

Aber es gefällt wohl nicht allen, weil es sich beschränkt und Fotos an erste Stelle setzt und nicht Videos.

Dabei wird es von Profis gerne und bis heute für schwierige Projekte genutzt.

Heute kommen über das Foto und seine Möglichkeiten Wissensgebiete der Kulturschaffenden zusammen, die zusammen gehören.

Sie zu nutzen wäre die Aufgabe, dafür bezahlt zu werden die politische Antwort einer demokratischen Gesellschaft. Abe dafür muß man was tun. Vielleicht helfen gute Fotogeschichten dabei.

Wie man es macht und womit man es macht wissen Sie ja nun!

Aber als Deutscher möchte ich noch etwas anmerken. Wieso spricht man von Manual und von Tool? Ich würde mir wünschen, wir würden wieder von Handbuch und Softwareprogramm oder Werkzeug sprechen. Das sind nämlich präzisere und deutsche Wörter, die für deutsche Menschen und deutsches Denken wichtig sind.

Zur Kenntnis der Geschichte gehört auch die Erkenntnis, daß man weder vor seiner Geschichte flüchten kann noch durch Aufgabe der eigenen Identität besseres findet. Ich habe zwar auch mal den Begriff Fotostory benutzt aber mit dem Hinweis, daß Fotos Geschichten erzählen. Insofern packe ich mich an die eigene Nase und hoffe, mit diesem Beitrag etwas zur Sensibilisiereng der Sprache beigetragen zu haben.

Auf Wiedersehen!

Veröffentlicht in Bergisches, Zeitgeschichte

Erinnern an die Wirklichkeit? – Sozialer Wandel in Deutschland am Beispiel des Bergischen Landes

Visual history arbeitet mit Fotos. Diese Fotos sollen ebenso erzählen wie man es mit Worten kann. Aber Fotos können mehr aussagen, weil sie auch ohne Worte wirken.

Das Bergische Land ist eines der ältesten Industriegebiete in Europa. In den letzten 20 Jahren sind dort viele industrielle und menschliche Wunden geschlagen worden.

Aber weil wir in parallelen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft leben, sind diese Entwicklungen an einigen Gruppen eher spurlos vorbei gegangen oder werden sogar verdrängt.

Um diese Entwicklungen festzuhalten habe ich die Form des Fotoessays gewählt.

Sie finden ihn hier.

 

Veröffentlicht in Alle

Nur Zulieferer? Dokumentar-Fotografie und visual history

Zwischen Bildern und Geschichte

Der Historiker Gerhard Paul kommt in der Einleitung zu einem Sammelband (pdf) mit dem Titel „Von der Historischen Bildkunde zur Visual History“ u.a. zu folgenden Schlußfolgerungen:

„Selbst die Lokal- und Regionalgeschichtsschreibung hat sich in der Zwischenzeit den Bildern der Geschichte und der Visualität des Geschehens zugewandt,wie exemplarisch Untersuchungen über die »visuelle Erinnerungs- und Geschichtskultur in Kassel 1866-1914″  oder eine neue Studie über »das fotografische Gedächtnis« des Saarabstimmungskampfes von 1934/35 demonstrieren.
Ausgehend von den aktuellen Standards der fotohistorischen Forschung werden hier zentrale Siegesbilder als visuelle Inszenierungen dekonstruiert und die unterschiedlichen Perspektiven deutscher und ausländischer Fotografen auf die Ereignisse rekonstruiert.
Charakteristisch für alle diese Studien ist ein »eklektizistischer Methoden-Mix« (Karin Hartewig), der sich ikonografisch-ikonologischer Methoden, semiotischer Ansätze als auch Verfahren der Soziologie bedient. Dieser »Wald- und Wiesenweg« der Praktiker habe eine »Fülle überzeugender Darstellungen und Bildpräsentation« hervorgebracht.“

Später weist er darauf hin, daß der Wiener Historiker Gerhard Jagschitz den Begriff in Deutschland eingeführt hat und dehnt ihn dann über die Fotografie hinaus aus.

„Nur mit dem von Karin Hartewig als »eklektizistischem Methoden-Mix« bezeichneten Verfahren, das abhängig vom zu untersuchenden Gegenstand Methoden der Hermeneutik, der Semiologie, der historischen Kontextualisierung und des Vergleichs anwendet, dürfte es in absehbarer Zeit möglich sein, den komplexen Zusammenhang von Bildstruktur, -produktion, -distribution, -rezeption und Traditionsbildung zu bearbeiten und auf diese Weise ungelösten Problemen der Geschichte seit Beginn der visuellen Revolution auf die Spur zu kommen. Visual History bedarf daher – ähnlich wie die Ikonologie – ständiger Grenzüberschreitungen, Improvisationen und der Bereitschaft zur Interdisziplinarität.“

Zuguterletzt schreibt er dann:

„Der Begriff Visual History umschreibt somit drei Ebenen:

  • die Erweiterung der Untersuchungsobjekte der Historiker in Richtung der Visualität von Geschichte und der Historizität des Visuellen,
  • das breite Spektrum der Erkenntnismittel im Umgang mit visuellen Objekten
  • sowie schließlich die neuen Möglichkeiten der Produktion und Präsentation der Forschungsergebnisse.“

Puuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuh

Früher hat man gesagt, welche Materialien man zwischen Überrest und Tradition als historische Quellen nimmt, um damit zu arbeiten. Heute grenzt man sich ununterbrochen von anderen „Wissensgebieten“ ab, um dann noch ein neues Wissensgebiet zu „finden.“

Aus Sicht von Herrn Paul hört sich das Ganze für mich so an, als ob die Fotografie eine Art Zulieferer für die Geschichtsforschung sei.

Das kann man aber auch anders sehen.

Fotografie auf Augenhöhe

Wenn wir den deutschen Sektor verlassen und ein paar Jahre zurückgehen, dann können wir das Buch von Peter Burke „Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen“ finden.

Er schreibt folgendes: „Der Filmtheoretiker Siegfried Kracauer (1889-1966) verglich einmal Leopold von Ranke (1795-1886), lange Zeit der Inbegriff einer objektiven Geschichtsschriebung, mit dessen Zeitgenossen Louis Daguerre (1787-1851), um darauf hinzuweisen, daß Historiker wie Photographen jeweils aussuchen, welchen Aspekt der realen Welt sie portraitieren wollen.“

Damit ist plötzlich die Fotografie auf Augenhöhe in der Geschichtsschreibung.

Es ist eben alles nicht so einfach.

Wenn Fotografen etwas dokumentieren wollen, dann ist es oft ein Ereignis, eine Situation oder ein Thema – oder alles gleichzeitig.

Damit entsteht dann auch fotografisches Material, auf das eventuell später Historiker zurückgreifen können.

Beim Anschauen der vielen Serien zur Dokumentarfotografie ist mir immer wieder deutlich geworden, daß hier oft der einzige visuelle Eindruck eines Ablaufes, einer Situation oder einer Veränderung festgehalten wurde. Oft schreiben die fotografischen Serien die Geschichte wenn es um sozialdokumentarische Fotografie geht.

Wenn ich auf die Metaebene wechsle und untersuche, wer die Fotografie wie gebraucht, dann ist das wieder anders

Ohne Worte

„Bilder können Zeugnis ablegen von etwas, das nicht in Worte gefaßt werden kann.“

Dieser Satz von Peter Burke zeigt die Richtung.

Immer mehr von immer weniger

Gerade heute leben wir in einer Zeit, in der nicht nur immer mehr – sondern von immer weniger immer mehr fotografiert wird.

Reale Themen wie Armut in unserer Gesellschaft werden dagegen so gut wie gar nicht mehr fotografiert.

So ist die Dokumentarfotografie heute in jeder Form besonders wichtig als Element der zukünftigen Geschichtsschreibung, weil sie Dinge hinterlassen kann, die heute jenseits der Schriftlichkeit vieles dokumentieren.

Was bleibt?

Aber schon sind wir im nächsten Problem.

  • Wie soll denn die Dokumentarfotografie etwas hinterlassen?
  • Gedruckt auf Papier oder online?
  • Wenn online, wer sammelt es denn?

Die deutsche Nationalbibliothek müßte es, kann es aber nicht. Bliebe die NSA und archive org.

Ob das reicht?

Was aktuell online ist kann ja abgefragt werden. Aber damit ist nur das vorhanden, was online ist. Hier kommt dann die Gretchenfrage des Urheberrechts ins Spiel, ob man alles abkopieren darf, um es Dritten zur Verfügung zu stellen. Viele Fragen, wenig neue Antworten.

Es ergeben sich also für die Geschichtsschreibung immer mehr Fragen, die zeigen, daß heute vieles neu gedacht werden muß.

Vielleicht hat Gerhard Paul eine Antwort für die Praxis der Geschichtsschreibung gegeben, die sich aus der Begegnung mit der  Dokumentarfotografie ergibt.

Es ist der „Wald- und Wiesenweg der Praktiker“.

Meine Erfahrung ist, daß es besser ist, das auszuwerten was da ist, als darüber nachzudenken, was man brauchen würde, um es umfassend zu tun. Es steckt bei der Analyse meistens viel mehr drin und es ergeben sich immer neue Dimensionen, wenn man erst einmal angefangen hat.

Und so ist es auch mit Fotos als historische Quellen.

Nun ist dies kein wissenschaftlicher Aufsatz sondern ein Wald- und Wiesenaufsatz mit wissenchaftlichem Wanderstock als Einstieg in diesen Wald der Materie.

Meine Überlegungen unterstützt durch die Herren Paul und Burke dürften ausreichen, um das Thema anzuschneiden und darauf aufmerksam zu machen.

Ich hoffe nur, daß zum Schluß die Wortwahl der neuen Historiker noch so verständlich und eindeutig bleibt wie früher.

Denn wenn ich eins gelernt habe dann dies:

Sozialwissenschaften zwischen Soziologie und Kommunikation bilden so gerne Fachsprachen, um sich abzugrenzen und zu brillieren, daß man zum Schluß denkt, ein Furz ist eine fulminante Erscheinung am Rande des persönlichen Universums mit ästhetischem Potential und sinntranszendierender Stimulanz.

Das muß nicht sein.

 

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Der Wenzelnberg als Beispiel für die Erinnerungsarbeit und die Begegnung mit der Gegenwart

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke

Voltaire brachte es auf den Punkt als er sagte, eigentlich sei Geschichte die Lüge auf die man sich geeinigt habe.

Und auch wir wissen heute oft nicht, was wie war. Aber wenn wir wissen, wo man uns belogen oder etwas vorenthalten hat, dann ist dies immer eine Sternstunde der Geschichtsschreibung, weil sie dokumentiert, was geschehen ist und die Frage stellt, worauf man zukünftig aufpassen sollte.

Es ist der Versuch, der Geschichte Handlungskompetenz in der Geschichtsschreibung zuzuweisen. Das ist allerdings durch die Geschichtslosigkeit der meisten Politiker und ihrer Entscheidungen dann meistens doch nicht möglich.

Und dennoch gibt es dabei Dinge, die wichtig sind, weil es neben der Geschichtsschreibung etwas gibt, an das sich Menschen erinnern als Zeitgenossen oder in der Nachwelt. Es sind Erlebnisse und Erzählungen davon und darüber.

„Was man als kollektives Gedächtnis bezeichnet, ist kein Erinnern, sondern ein Sicheinigen – darauf, daß dieses wichtig sein, daß sich eine Geschichte so und nicht anders zugetragen habe, samt den Bildern, mit deren Hilfe die Geschichte in unseren Köpfen befestigt wird…. Aber Fotos, die das Leiden und das Martyrium eines Volkes vor Augen führen, erinnern nicht bloß an Tod, Scheitern und Erniedrigung. Sie beschwören auch das Wunder des Überlebens. Wer den Fortbestand der Erinnerung sichern will, der hat es unweigerlich mit der Aufgabe zu tun, die Erinnerung ständig zu erneuern, ständig neue Erinnerungen zu schaffen – vor allem mit Hilfe eindrlicher Fotos. Die Menschen wollen ihre Erinnerungen besichtigen und auffrischen können.“

Diese Gedanken von Susan Sontag zeigen, da kommt die Fotografie ins Spiel. Fotos sind Bilder, die in die Köpfe kommen. Und Menschen erinnern sich mehr an Bilder als an Worte.

Bilder sagen manchmal mehr als tausend Worte. Und Bilder erzeugen Gefühle, erinnern daran, erneuern sie und erweitern das Gespürte.

Wie macht man dies sichtbar? Susan Sontag verweist in diesem Zusammenhang auf Gedenkmuseen als Erinnerungsstätten. Aber dort wo sie schon sind dürfen sie ebenfalls nicht vergessen werden.

Ein solcher Ort ist der Wenzelnberg mit der Wenzelnbergschlucht bei Langenfeld. Es ist ein Beispiel von sehr vielen.

Wie geht man damit fotografisch um?

1. Vergangenheit

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke

2. Erinnerung

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke

3. Gedenken

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4. Gegenwart – Flagge zeigen

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke

5. Zukunft

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke

 

 

Veröffentlicht in Alle, Zeitgeschichte

Geschichte schreiben mit Fotografie heute

Geschichtsschreibung und Fotografie sind heute mehr als das berufliche Thema von Historikern.

Heute ist eine neue Art des Verstehens möglich, bei der Fotos von der eher dokumentierenden-journalistischen Funktion zur dokumentierenden-historischen Funktion übergehen und dies alles innerhalb eines Lebens gesehen und verarbeitet werden kann.

So kann man aus dem Festhalten des Gesehenen und Geschehenen fotografisch und textlich sehr viel für die historische Forschung und Darstellung machen.

Es gibt verschiedene Ansätze, die ich beispielhaft mit Büchern benennen will.

Friedhelm Brebeck, Ursula Meissner, Sarajewo 1992 – 1996

Dieses Buch ist sicherlich eine kraftvolle Dokumentation, weil sie alle existenziellen Situationen darstellt und direkt übertragbar ist. Hinzu kommt der Alltag in Ausnahmesituationen

Harald Kirschner, Halle 1986 – 1990

Hier wird der Übergang im öffentlichen Raum von einem politischen System ins nächste gezeigt. Es ist eine Art des Festhaltens sichtbarer Veränderungen durch das, was noch das ist als Überrest und das, was weg ist und ersetzt wurde

Cordula Schlegelmilch, Wurzen 1990 – 1997

Hier wurde durch Forschung und Biografiearbeit versucht, soziale Veränderungen systematisiert festzuhalten, um personelle Veränderungen in einer Übergangszeit später nachvollziehen zu können

Es sind verschiedene Ansätze, die aber alle etwas gemeinsam haben.

Sie sind ohne Fotos nicht denkbar und sie sind alle drei nicht gegenseitig ersetzbar.

Geschichtsschreibung braucht starke Dokumente und starke Fakten.

Wenn Befehle nicht auffindbar sind, dann sind die Fotos der Folgen dieser Befehle oft das Einzige, was dies alles dokumentieren kann.

Deshalb ist gute Geschichtsschreibung auch immer mit dem Risiko der Behauptung besetzt. Aber dann ist sie manchmal am besten.

Man sieht schon, daß ich Geschichtsschreibung anders verstehe.

Wenn die armen Leute kein Tagebuch schreiben, dann muß man entweder mit realen Fotos oder mit erfundenen Charakteren nachhelfen, um Bilder zu erzeugen, die erzählen, wie es war oder wie es ist.

So habe ich bisher Geschichte geschrieben und Gesehenes und Geschehenes fotografisch dokumentiert.

Das ist meine Art Geschichte zu schreiben – mit Worten und mit Bildern.

Heute geht man sogar noch weiter und inszeniert Fotos ebenso wie in Filmen das historische Geschehen.

Aber Fotos sind kontextbezogen, d.h. weil sie frei in der Interpretation sind, muß man wissen, was, wer, wann, wo, wie und warum.

Deshalb sind Fotos ohne Hinweise oft nicht sinnvoll.

Das Ende der Geschichte ist vielleicht bald in Sicht. Aber bis dahin können wir nun die Fotografie noch besser einsetzen und vielleicht Fotos machen, die so viel sagen wie das, was hier beschrieben wurde.

 

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Sarajewo – Geschichtsschreibung als Dokumentarfotografie. Anmerkungen zu Ursula Meissner und Friedhelm Brebeck:

Ursula Meissner ist Fotografin. Ihr Thema sind Kriege und Konflikte. Dazu gehören auch starke Emotionen in starken Fotos. Sie versteht es, dies alles visuell einzufangen und auszudrücken. Manches von ihr ist so dokumentarisch und authentisch, daß es eine besondere Kunst (und Kunstform?) geworden ist. Heute ist sie eine der weltweit bekanntesten Kriegsfotografinnen.

Aber sie fotografiert weniger die Schlachten und die Schützen, sie fotografiert vor allem auch das, was danach passiert in einer Art, die aus Fotos visuelle Welten macht.

Das hat sie so bemerkenswert werden lassen.

Denn Krieg bedeutet Zerstörung, Gewalt und Leid. Dort setzt sie an aber dort hört sie nicht auf.

Es gelingt ihr die Hoffnung zu zeigen und das Gedenken, wenn es hoffnungslos war.

Daraus ist gemeinsam mit Friedhelm Brebeck ein Buch entstanden, das eindrucksvolle Texte mit dokumentierenden Fotografien verbindet.

Es ist das Buch über Sarajewo von 1992 bis 1996. So etwas kann man natürlich nur schreiben, wenn man auch länger dort war.

Und so entstand ein Buch über ein Ereignis vor Ort mit seinen Einschnitten im Leben der Menschen. Zugleich ist dieses Buch aber mehr.

Nun ist es gut 15 Jahre später ein beeindruckendes und bis heute lebendiges Dokument der Zeitgeschichte und berührt direkt die Gegenwart.

Denn es zeigt durch das Dokumentieren der Abläufe für uns heute die Folgen.

Wer wissen will welche Folgen Fanatismus, Machtspiele und religiöse Ausgrenzung haben und wer wissen will, warum und wie Haß entsteht, der findet durch die visuelle Aussagekraft und durch die Texte Erklärungen dafür, warum nach Mord und Zerstörung die Versöhnung so schwer ist.

Meissner und Brebeck haben damit etwas geschaffen, das sehr selten ist, weil es weiter wirkt.

Es ist zugleich aber auch ein Beleg dafür, daß Geschichtsschreibung heute, wenn sie mehr als eine Chronologie sein soll, neue Wege gehen muß.

Nur so können soziale Zusammenhänge und mentale Veränderungen und Einstellungen sichtbar und erklärbar werden.

Wenn Menschen nach Deutschland kommen, dann tragen sie oft die Bilder in ihrer Seele, die wir nicht sehen.

Ursula Meissner hat sie für diesen Krieg damals aufgenommen und Friedhelm Brebeck hat sie zu Papier gebracht.

Help my: Bilder vom belagerten Leben, Sarajevo 1992-1996

von Friedhelm Brebeck und Ursula Meissner

ISBN 3-930459-17-5

Veröffentlicht in Essay

Fotos & Texte

„Fotografen sind Geschichtenerzähler. Die einen erzählen über Landschaften, die anderen über Gesichter und die dritten über Vorgänge. Nur dass sie diesen einen großen Nachteil haben: Zum Erzählen der Tiefe steht ihnen immer nur die Oberfläche zur Verfügung. Darunter leiden alle.“

Diese schönen Worte von Jim Rakete machen klar, warum Fotos auch Texte brauchen. Damit man versteht, was man auf der Oberfläche sieht.

 

Veröffentlicht in Alle, Zeitgeschichte

Die neuen Gutmenschen im 21. Jhrdt.

Es ist wahr. Wir lieben unser Land. Wir lieben es so sehr, daß auch heute noch Ruhe die erste Bürgerpflicht ist.

Wir haben es geschafft, in Deutschland eine neue Lebensphilosophie zu etablieren: die Philosophie der Gutmenschen.

Gut ist, was ankommt.

Und so wird alles getan, damit man ankommt. Besonders sichtbar wird es beim „Gefällt mir“.

Schlecht ist dann umgekehrt, was nicht ankommt.

  • Die Ungerechtigkeiten bei Hartz 4 kommen nicht an.
  • Die Ungerechtigkeiten bei den Lebenschancen kommen nicht an.
  • Die Ungerechtigkeiten beim Aussprechen von sozialen Wirklichkeiten kommen nicht an.

Die Massenmedien werden gezielt genutzt, um die Richtung vorzugeben.

Heute versucht man dies durch Studien. Wer in die Medien will läßt Studien machen. Diese Studien sind natürlich so in Auftrag gegeben, dass das Ergebnis passt.

Und damit kreiert man ein soziales Thema und gibt eine Botschaft vor.

Es gibt Millionen von Menschen, die ein besseres Leben in Deutschland verdient hätten, weil sie viele Jahre und manchmal Jahrzehnte fleißig, ordentlich und anständig gearbeitet haben, soziale Dienste leisteten und vieles mehr.

Diese Menschen sind durch Hartz 4 und viele andere soziale Maßnahmen zu den ehrlichen Dummen gemacht worden.

Mit viel Geld wurde ein bürokratisches Monster etabliert, um diese Menschen in Schach zu halten.

Und die Massenmedien erfüllen ihren Auftrag, indem sie einerseits über die schlimmen Zustände außerhalb von Deutschland berichten und andererseits über die Zufriedenheit auch mit kleinen Dingen innerhalb von Deutschland.

Tränen für das Schicksal und Spendengalas sind dafür bestens geeignet.

Wer diese Gutmenschenkultur durchbricht, die durch alle Medien und Moderationen geistert als stille Übereinkunft, der wird geächtet.

Die Wahrheit oder Wirklichkeit spielt eben keine Rolle.

Wenn man dies erkennt, dann kann man es nicht ändern.

Es sind Messer-und-Gabel Fragen und keine anderen Fragen, die die Menschen bewegen.

Essen, Trinken, Sex und Urlaub sind die Themen unserer Zeit.

Soziale Sicherheit, saubere Natur, Schutz des Waldes, gute Erziehung und Umverteilung spielen dabei keine große Rolle.

Das ist genau betrachtet der Widerspruch, der die Menschheit ausmacht.

Deshalb geht die Menschheit den Weg, den sie gerade geht.

Wir können es erklären aber nicht ändern.

Das ist alles.

Veröffentlicht in Buch, Zeitgeschichte

Geschichte schreiben heute – Das persönliche Fotobuch und die Fotografie zwischen Zeitgeist und Lebenszeit

Ich habe lange dafür gebraucht.

Für die Fotos ebenso wie für den Artikel und noch länger bis es so weit war.

Die Geschichte der Kompaktkameras

Ab 1999 ermöglichten die preiswerten Digitalkameras von Jenoptik mir den Zugang zur Digitalfotografie. Dann glaubte ich mit der teuren Canon Powershot G1 eine langlebige Kamera zu kaufen. Das stellte sich technisch als Illusion heraus. So ging es bis 2005.

Danach gab es ja das Feuerwerk der Kompaktkameras auf dem Markt. Es war die Zeit der Experimente für Kunden und Unternehmen. Für mich waren es die Sanyo E6, die Fuji F10, die Lumix FX-37, die Kodak V570 und die Fuji Z3.

Erinnern Sie sich noch daran? Eher weniger?

Die Geschichte und die eigene Lebenszeit

Genau so ist es mit der eigenen Lebenszeit und den extremen Belastungen, die damals vorhanden waren.

Erst wollte ich die Bilder einfach liegenlassen für später. Aber wer wüßte dann noch was und wie, warum und wo?

Nach einiger Zeit entschloß ich mich, daraus ein persönliches Fotobuch zu machen. Und in diesem Fall hält das Buch mehr als die Seiten zwischen den Buchdeckeln.

Dokumentarfotografie 2000 bis 2010

Es sind Fotos aus der Zeit zwischen 2000 und 2010 – nicht viele aber exemplarische Momente, die fast immer öffentlich waren, aber von denen die Öffentlichkeit nur sehr begrenzt Kenntnis nahm.

Es ist sehr persönlich, weil darin mein Herzblut und die Energien vieler anderer Menschen zu finden sind. Es ist eine fotografische Dokumentation, die viele Erinnerungen und Gefühle freisetzt.

Nicht einfach vergessen

Ich hatte eine Kamera immer öfter neben meinem Füller und dem Notizbuch dabei und fragte die Menschen, ob sie Lust hätten auf Fotos zu sein, die an uns erinnern und von denen ich noch nicht weiß, wann und wo ich sie als „Geschichtsbuch“ veröffentliche. Sie sagten immer ja und freuten sich, daß sie nicht einfach vergessen werden.

Dann erzählte ich über andere Bücher von mir und ich endete jedes Mal mit der Feststellung, wenn wir uns nicht dokumentieren, dann wird uns niemand dokumentieren.

Das wußte ich seit meinem ersten historischen Buch über eine lokale soziale Bewegung und der Recherche dafür im Archiv. Die Menschen damals waren nur in den Polizeiberichten der Bismarckzeit auffindbar, ohne Fotos und nur so wie die Geheimpolizei dies damals sah.

Worte reichen nicht

Den Menschen ein Gesicht geben, die Namenlosen zumindest als Teil des Geschehens sichtbar festhalten, um an sie zu erinnern und ihnen so einen Platz im Gedächtnis der Gesellschaft einräumen.

Worte allein reichen nicht, wenn man lebendig im historischen Gedächtnis von Menschen und Archiven bleiben will. Das war mir klar nach vielen Jahren zwischen Wörtern, Bildern und Geschehen.

Auch Niederlagen muß man dokumentieren, weil sie gut sind, wenn man daraus lernen will. Sie bringen uns an die Grenze jenseits der Illusionen.

Das ist Geschichtsschreibung heute.

Und deshalb setzte ich dieses Wissen dann erstmalig digital und visuell bei Mannesmann um.

Ja so war das.

Das beste Foto ist das, das überhaupt existiert

Einige Fotos sind unscharf, weil die, die die Kamera bedienten, der Automatik vertrauten und damals bei schlechtem Licht kleine Kameras noch größere Probleme hatten.

Aber es sind die einzigen Fotos, die überhaupt zeigen, wie es war.

Außer in der Erinnerung der Beteiligten ist vieles nicht mehr auffindbar und sichtbar erst gar nicht. Viele Betriebe von damals als soziale Veranstaltungen sind verschwunden, Gebäude sind abgerissen, es wurde umgezogen und vieles mehr.

Die Globalisierung mit ihrer menschenfeindlichen Fratze hat in dieser Region bei so vielen Menschen so viele Wunden geschlagen, dass jede neue Erinnerung auch neue Schmerzen hervorruft.

Erinnerungen zwischen Würde und Schmerz

Aber der Entschluß, daraus dann doch ein Fotobuch zu machen, setzte viele Dinge in Bewegung. Nun sehe ich Menschen und Ereignisse noch einmal und sie haben nichts von ihrer Würde und ihrem Ringen verloren.

Doch sie sind vorbei – aber nicht die Wunden und Schmerzen, die sie hervorbrachten. Diese sind nicht sichtbar aber für den spürbar, der sie erlitten hat. Sie sind in der Seele und schmerzen immer wieder, wenn sie geweckt werden. Globalisierung bedeutet legalisierte Gemeinheit und den Sieg von Gier und Ungerechtigkeit. Davon profitieren nie die kleinen Leute vor Ort. Diese zahlen immer den Preis dafür.

Natürlich gibt es in Momenten des sozialen Kampfes und von Situationen, in denen man weiß, daß man verliert, auch die Momente des Zusammenhalts, die wirklich helfen, diese Zeiten durchzustehen.

Auch daran erinnert man sich. Aber es ist nur ein Trost, weil die Wirklichkeit so trostlos war.

Die Zeiten mit diesem brutalem Umbau sind in dieser Region momentan so massiv vorbei.

Fotos bleiben als sichtbare Dokumente der Erinnerung

Die Fotos sind die einzigen Überbleibsel dieses „Wandels“, der zehntausenden von Menschen und hunderten von Betrieben aus der Region (Remscheid, Solingen etc.) die Arbeit und die Zukunft nahm. Das steht alles exemplarisch für andere Regionen, in denen Ähnliches passierte.

Die Menschen wollten alle arbeiten und ihre Arbeitsplätze behalten. Viele davon wurden arbeitslos und dann stigmatisiert durch Hartz 4.

Und der soziale Ausgleich in dieser Gesellschaft, der zu Beginn dieser Entwicklung manches abfederte, ist einer asozialen Gesetzeslage gewichen, die fast keine gut bezahlten Arbeitsplätze mehr hervorbringt ausserhalb des Beamtentums, sondern die Zeitarbeit als Normaleinstiegsarbeitsverhältnis definiert und damit den Menschen die Perspektive und die Identifikationsmöglichkeit mit diesem System nimmt.

Globalisierung und Industrialisierung

Ich finde, daran sollte man erinnern, weil wir bessere Gesetze verdient haben und weil diese Menschen in dieser Region als lokale Akteure die Namenlosen der Geschichte sind, die man heute unter Globalisierung zusammenfasst so wie man über die Industrialisierung spricht und dabei die Menschen vergißt, die damals Betroffene und Opfer waren.

Blickt man auf die Geschichte der Fotografie, dann war eine Folge der Industrialisierung die Entwicklung der sozialdokumentarischen Fotografie, um das festzuhalten, was in Bildern aussagekräftiger ist und mit Texten dann richtig zugeordnet werden kann.

Und wir?

Wir sind vor kurzem erst dabei gewesen als Betroffene und schon Teil der Geschichte, auch wenn wir noch leben.

Und es geht weiter.

So ist das.

Veröffentlicht in Essay, Europa, Zeitgeschichte

Kann man aus der Geschichte lernen?

Man könnte und man kann. Eigentlich geht es dabei ja um die Politik, die die Interessen der Menschen vertreten soll.

Das Grundgesetz ist so ein Fall. Da hat man gelernt. Weil man wußte, dass zu viel Macht zu Missbrauch führt hat man die Macht aufgeteilt. So zähmte man den menschlichen Charakter und schützte die Menschen.

Damals war ich 16 und Dr. Siegfried Middelhaufe war 80. Er erzählte mir aus seiner Zeit beim Land NRW. Er erzählte von den Nazis, der Organisation ODESSA und den vielen Dingen, die er nie belegen konnte.

Heute sind wir einige Jahre weiter. Und nun lese ich, daß er mit allen Vermutungen Recht hatte.

Oder Bernt Engelmann. Er erzählte mir von den Verquickungen zwischen Verwaltung, Militär und Nationalsozialisten und sagte mir immer wieder, wenn du noch die Bücher von Kurt Pritzkoleit bekommen kannst, dann verwahre sie. Da steht alles drin.

Ich habe in meinem Studium mit einem Schwerpunkt Zeitgeschichte und Drittes Reich noch erlebt, wie vieles an Unterlagen einfach nicht da war.

Aber der Spiegel hatte es auch schon 1956 geahnt.

Als Enzensberger in der anderen Bibliothek OMGUS, die Ermittlungen gegen die Deutsche Bank, veröffentlichte, da merkte ich, was selbst im Studium fehlte.

Daraus kann man lernen, dass die Eliten von heute oft aus dieser Zeit stammen und die Demokratie dazu dient, deren Reichtum über Generationen zu schützen.

Aber damit nicht genug.

Spätestens seit den neuen Skandalen um Immobilien, Libor, faule Kredite etc. wissen wir, dass auch eine Demokratie nicht schützt vor der grenzenlosen Gier und Skrupellosigkeit.

Demokratie ist eben nicht Demokratie. Es kommt auch darauf an, was drin ist.

Nur Gesetze können so etwas eindämmen, wenn ihr Übertreten zu echten Strafen führt.

Aber die teilweise Verquickung von Politik, Banken, Beamtentum und Wirtschaft hat sich mittlerweile auf eine neue Stufe weiterentwickelt.

Europa ist das Projekt, das vom Europa der Vaterländer zu einem Europa jenseits der europäischen Demokratien werden soll, gesteuert von sog. Sachzwängen einer Ideologie, die sich selbst widerlegt hat wie Andreas Wiersching nachgewiesen hat.

Und nun?

Nun haben wir aus der Geschichte gelernt und dies aufgeschrieben. Brecht wußte schon, daß erst das Fressen und dann die Moral kommt. Später wurde fixiert, daß Erkenntnis und Interesse verschieden sind.

So kann man nicht nur aus der Geschichte lernen sondern auch den menschlichen Charakter kennenlernen, um zu verstehen, warum das Lernen aus der Geschichte kaum funktioniert.

 

 

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25 Jahre der Standard. Fotografien zu 25 Jahren österreichischer Zeitgeschichte

Das Buch ist ein Meilenstein. So sieht es aus und so ist es auch. Hier brilliert die politische Reportage und erzählende Fotografie und liefert uns ein Feuerwerk der Zeitgeschichte, in Wien, um Wien und in der Welt um Wien herum aus österreichisch-kosmopolitischer Sicht.

Klassisch gute Fotografie und ein klassisch gut gemachtes Buch sind das beste, was zusammenkommen kann.

Hier ist es ein Werk geworden, das keine Langeweile aufkommen läßt – weder nach dem ersten noch nach dem wiederholten Durchblättern.

Es ist faszinierend festzustellen, um wie viel unverkrampfter die Menschen in Wien und drumherum auftreten, sehen und gesehen werden. Es ist in diesem Fall dabei ein Buch mit Fotos in einer Art herausgekommen, wie ich sie in Deutschland in den letzten Jahren nicht gesehen habe.

Im Epilog des Buches findet Gregor Auenhammer die richtigen Worte für die Fotos von Matthias Cremer. „Er dekuvrierte das Verborgene, das Geheime, das Geheimnisvolle, entlarvte das Echte, das Ehrliche. Authentisch, ungeschönt und nicht gestellt. Nie aber desavouierend.“

Jedes Foto erzählt eine Geschichte und liefert echte Reportagefotografie und viel Politisches. Das ist in der deutschsprachigen Welt selten geworden. In Deutschland fast verschwunden und hier in Österreich neu aufgetaucht.

Es ist zudem ein Geschichtsbuch der besonderen Art und es ist lehrreich, wenn man sich den Fluss der Zeit anschaut.

Fotografisch ist besonders der Übergang von den monochromen Fotos zu den Farbfotos bemerkenswert.

Ändern sich dadurch auch die Inhalte, werden aus Abläufen eher Detailgeschichten? Darüber läßt sich diskutieren. Aber es ändert sich fotografisch etwas.

1988 gründete Oscar Bronner die unabhängige Tageszeitung der Standard. Der Tag ihres ersten Erscheinens, der 19. Oktober, veränderte die österreichische Medienlandschaft. Der Standard bedeutete nicht nur einen inhaltlichern, sondern auch einen visuellen Paradigmenwechsel. Dafür, dass die Bildsprache des Standard die Optik der gesamten heimischen Zeitungslandschaft radikal und nachhaltig verändert hat, zeichnet in letzter Konsequenz auch Matthias Cremer verantwortlich. Seine Bilder waren anders – lebendiger, erzählender, zum Schmunzeln anregend oder zum Innehalten.

Er begann seine fotografische Arbeit bereits vor Beginn der vorgefertigten Reden von Politikern und Staatsmännern, suchte seine Motive vor der obligaten Formierung zum Gruppenfoto, hielt das Währenddessen und den oft aussagekräftigen Abgang fest, fotografierte die bekannten Gesichter dieser Welt genauso wie subtile menschliche Ereignisse. Seinen Kritikern wusste er stets augenzwinkernd mit einem Statement Cartier-Bressons zu kontern: „Schärfe ist ein bourgeoises Konzept.“

Das Buch hält dies nun alles im Zusammenhang fest und ist zugleich eine Vorlage für Menschen, die sich in der Reportagefotografie ausprobieren wollen. Hier wird gezeigt und dadurch erzählt, klug Neugier weckend aufgeteilt für Geschichten und die Geschichten neben den Geschichten …

In der Edition Lammerhuber ist dieses mit viel Liebe zum Detail produzierte Buch erschienen. Es ist ein Buch mit Charakter und viel Inspiration geworden – für die politische Diskussion, für die Reportagefotografie, für die Veränderungen in der Politik und vieles mehr.

Matthias Cremer
Oscar Bronner, Gregor Auenhammer, Wolfgang Weisgram
29,5 x 30,5 cm, 252 Seiten, 223 Fotos
Deutsch
Hardcover
ISBN 978-3-901753-62-6