Veröffentlicht in Buch

Geschichte ohne Epochen? – von Jacques Le Goff

„Die Historiker dürfen nämlich auf gar keinen Fall, wie das bislang zu oft geschehen ist, die Idee der Globalisierung mit Gleichmacherei verwechseln. Bei der Globalisierung gibt es zwei Etappen. Die erste besteht in der Kommunikation: Zwischen Regionen und Zivilisationen, die vorher nichts miteinander zu tun hatten, werden Kontakte geknüpft. Die zweite ist ein Phänomen der Absorption, der Verschmelzung. Bis heute hat die Menschheit lediglich die erste Etappe erlebt.“

So endet das Buch des erfahrenen Historikers Jacques Le Goff. Es endet mitten in der Gegenwart.

Und genau darum geht es. „Geschichte ohne Epochen? – von Jacques Le Goff“ weiterlesen

Veröffentlicht in Buch

Die IG Metall zwischen Wiedervereinigung und Finanzmarktkrise vom Vorstand der IG Metall (Hg.) und Boris Barth

Es ist ein kleines und lesbares Buch geworden. Jörg Hofmann schreibt im Vorwort „Es ist der Blick eines Historikers auf diese letzten 25 Jahre Geschichte der IG Metall und seine Bewertung wesentlicher Aspekte unserer Arbeit.“

Da lohnen sich dann umso mehr einige Blicke darauf. Ich war dabei, er war es nicht. Ich erlebte die Zeit von unten und von innen, er las die Protokolle und sprach mit mindestens drei Vorsitzenden. Daher ist das Buch für mich sehr spannend.

So bleibt zunächst festzustellen, daß die Papierlage gut war. „Die IG Metall zwischen Wiedervereinigung und Finanzmarktkrise vom Vorstand der IG Metall (Hg.) und Boris Barth“ weiterlesen

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Wenn die Gesellschaft kaputt ist kann man die Antwort nicht googlen

Dennoch kann die Gesellschaft auf kranke Art funktionieren. Zumindest ist dies in Teilbereichen der Fall. So kann die Behandlung von Krankheiten erfolgen, auch wenn es sinnvoller wäre, Krankheiten zu vermeiden.

Und wenn eine Gesellschaft kein Grundeinkommen will (ob bedingungslos oder nicht ist eine andere Frage) dann ist der Konsum (k)eine Lösung, so wie es Hans A. Pestalozzi formulierte:

„Wir geben uns noch immer der Fiktion hin, dass wir arbeiten, um leben zu können. Die neueste Errungenschaft unseres Systems ist jedoch, dass wir dringend mehr konsumieren müssen, damit genügend Arbeitsplätze da sind…. Begegnen wir solchen Perversitäten nicht auf Schritt und Tritt? „Wenn die Gesellschaft kaputt ist kann man die Antwort nicht googlen“ weiterlesen

Veröffentlicht in Essay

Was bedeutet Generationengerechtigkeit, wenn du Anfang 50 bist?

Seit mehr als 15 Jahren höre ich Politiker über Generationengerechtigkeit sprechen. Damals war ich Mitte 30. Da erklärte mir ein Gewerkschafter der IG Metall, Walter Riester, man müsse nun mehr für die private Rente tun und viele Leistungen der Rentenversicherung müssten aus Solidarität mit der jüngeren Generation verringert werden.

Dann führte die rot-grüne Bundesregierung ein, daß die Jahrgänge ab 1961 keinen Bestandsschutz mehr in der Berufsunfähigkeit haben.

Danach wurde der Wert des Rentenpunktes abgesenkt.

Dann wurden mir und vielen anderen mehr als 20 Jahre nach dem Studium und dem Abitur rückwirkend die rentensteigernden Jahre der Qualifizierung aberkannt, insgesamt 8 Jahre. „Was bedeutet Generationengerechtigkeit, wenn du Anfang 50 bist?“ weiterlesen

Veröffentlicht in Zeitgeschichte

Zeitgeist im Wandel

Ich möchte mit diesem Artikel auf einige Texte aufmerksam machen, die die mentalen und sozialen Veränderungen in unserer Gesellschaft in Worte fassen.

Viellecht helfen Sie Ihnen, im Kopf und vor Ort die Blicke zu schärfen, um dies zu sehen.

 

Veröffentlicht in Essay

Generationenwechsel – neue Elemente im Zeitgeist

„Ich hatte so eine schöne Jugend. Ich mußte zu Hause nicht waschen und nicht putzen. Das Essen wurde für mich gekocht und wir konnten in Urlaub fahren. Jetzt bin ich Mitte zwanzig und soll selbst putzen und kochen? Nein Danke, da würde ich mich ja verschlechtern.“

Solche Gespräche habe ich nun schon öfter gehört. Oder ein anderer Fall.

Nie Hausarbeit gemacht oder ernsthafte Lebenserfahrungen außer zu Hause und direkt nach dem Abitur auf der Gesamtschule zur Universität, um Lehrer zu werden. Da waren sie 18. Jetzt sind sie 24 und Lehrer in der Schule. Was für LehrerInnen sind das und was vermitteln sie? Genau das, was sie wissen und an Erfahrungen und Einstellungen gesammelt haben.

Das ist die neue Gegenwart und die neue soziale Wirklichkeit, die Deutschland vereinnahmt.

Soziale Defizite in der grundlegenden Lebenspraxis sind eben kein alleiniges Phänomen demenzkranker Menschen, die am Lebensende ihren Alltag nicht mehr strukturieren können. Das setzt schon in der Beurteilung voraus, daß dies vorher gelernt und über viele Jahre umgesetzt worden wäre. Heute ist es anders.

Heute ist es bei vielen jungen Menschen oft (nicht immer) so, daß unabhängig vom Ausbildungsgrad nicht einmal mehr die grundlegegenden sozialen Arbeitsweisen ausgeprägt und eingeübt wurden, die für eine eigentständige Lebensplanung erforderlich wären.

Das breitet sich aus.

Und nun?

Nun weiß ich, welche Dienstleistungen wachsen und warum es so schwer ist, eine Küche zu benutzen. Man muß sie ja hinterher sauber machen.

Das Soziale boomt, weil fast nichts mehr von dem, was vor 30 Jahren noch selbstverständlich im sozialen Wachsen war, heute eingeübt wird.

Von wem auch? Wenn Lehrer so sind wie hier beschrieben – und davon kenne ich nun einige – dann wird das Ergebnis die logische Fortsetzung dieser Sozialisation sein.

Damit ist aber kein Staat mehr zu machen.

Und die Demokratie hat sich deshalb auch so entwickelt wie sie sich entwickelt hat.

Die Demokratie wird zu einem Dienstleister. Da paßt natürlich Dienst an der Waffe und am Volk im Zivildienst nicht mehr.

Aber wer dient hier wem und wofür?

So ist man als Zeitgenosse dabei und kann es sogar analysieren, aber ändern kann man es nicht – lediglich sich selbst in ein Verhältnis zur Zeit und diesen Beobachtungen stellen.

Die neue Elite schickt daher ihre Kinder auf Eliteschulen und die Sozialdemokraten und Grünen machen mit ihrer Bildungspolitik so weiter. Denn die meisten sind ja Lehrer geworden und dann in die Politik gegangen.

Rückblickend war das Bildungssystem in der DDR in der Summe besser. Aber da lernte man ja schon in der Schule auch die Hausarbeit und mußte sich in Gruppen einbringen.

So ist manches heute anders aber nicht besser.

Veröffentlicht in Alle, Essay

Nach der Wende: Die langsame Abschaffung der Industriegesellschaft und der Aufbau der Dienergesellschaft

Deutschland ist auf dem Weg vom Land der Denker zum Land der Diener zu werden. Dienen für kleines Geld in Sozialberufen und dienen für etwas mehr Geld als Architekt oder Ingenieur. Aber die wenigen deutschen Ingenieure werden langsam von den Massen asiatischer und indischer intelligenter Diener abgelöst. Das sehen wir gerade.

Man könnte auch sagen, Deutschland ist auf dem Weg von der Hardwaregesellschaft zu einer Softwaregesellschaft zu werden. In meiner persönlichen Lebenszeit ist mir dies vor allem an den Entwicklungen nach der Wende 1989 deutlich geworden. Bis dahin dominierte die Industrie fast überall.

Doch dann ging es los:

  • Zunächst wurden systematisch ostdeutsche Industriekombinate und Produktionsbetriebe zerschlagen und geschlossen. Ich habe damals selbst erlebt wie westdeutsche Unternehmen systematisch ostdeutsche Konkurrenz „übernahmen“ um sie zu schließen. Da die DDR viele Produkte für Westdeutschland produzierte ging es meistens nicht um Wettbewebsfähigkeit der ostdeutschen Unternehmen sondern um das Ausschalten ostdeutscher Konkurrenz, um die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Im Ergebnis wurde der Osten fast komplett deindustrialisiert.
  • Der Aufbau in Ostdeutschland erfolgte dann durch die Verlagerung westdeutscher Unternehmen nach Ostdeutschland mit staatlicher Förderung. Parallel dazu wurde das Sozialsystem umgebaut. Alle bisherigen guten sozialen Sicherungen wurden gekappt, um mit Billigarbeit und Niedriglöhnen durch Zeitarbeit und Befristungen die Menschen in neue entfremdete Arbeit zu zwingen.
  • Da zeitgleich immer mehr produzierende Industrie in das Ausland verlagert wurde, waren die neuen Arbeitsplätze dort, wo keine produzierende Industrie mehr war: im Dienstleistungssektor von der Altenpflege über das Sicherheitsgewerbe bis zum Service. Das geht so bis heute.

Dies alles geschah unter der Ideologie des Neoliberalismus. Dieser sagt vor allem, daß die Mächtigen möglichst alles ohne Regeln und Fesseln machen dürfen und dann wird alles gut.

Das Ergebnis sehen wir.

Wir leben in dieser neuen Zeit, die darauf wartet, daß ihr nie die Luft ausgeht.

In dieser Zeit sind neue Menschen geboren worden, die glauben, diese Situation sei normal. Es ist ihre erlebte Normalität, aber für eine Demokratie wie ich sie kenne ist dies nicht normal sondern abnormal. Wenn man aber das Abnormale für normal hält, ist das Normale abnormal.

Die Würde des Menschen wird sogar vom Bundesverfassungsgericht unter den Tisch fallen gelassen wie man am Beispiel Hartz 4 sieht, wo schon längst klar und eindeutig hätte eingeschritten werden müssen.

Unsere Demokratie beruht auf dem Grundgesetz und dieses sagt eindeutig, daß eine echte soziale Absicherung die Voraussetzung für demokratische Teilhabe ist und kein würdeloses Verarmungssystem für fleißige Inländer, das für nie hier gearbeitete Zugezogene sich als Segen entpuppt, weil sie hier mit vielen Kindern mehr erhalten ohne Arbeit als in ihren Heimatländern mit Arbeit. Dafür werden Menschen, die hier gearbeitet haben, erst in Armut gezwungen bevor ihnen geholfen wird. Näheres dazu hier.

Und so ergibt sich auch, daß wir hier aktuell parallele Generationen von Menschen haben, die völlig unterschiedlich denken gelernt haben. Die jüngeren Menschen denken eher nur noch gegenwartsbezogen, weil man ihnen die Zukunft durch Zeitarbeit und Drohungen wie lebenslanges Arbeiten mental und materiell nehmen will. Die Älteren ab 45 kennen noch die Welt, wie sie sein kann, wenn weniger die Gier und mehr die Vernunft regiert.

Veränderungen wären leicht möglich, wenn man den Reichen so viel wegnimmt wie den Arbeitenden und den Armen jeden Monat.

Und die Ideologie geht ja weiter. Während in den nordischen Ländern selbstverständlich über 60 Prozent vom Einkommen für den Sozialstaat ausgegeben werden und man davon auch profitiert, schreit man hier schon, wenn die Rentenversicherung auf 25% steigen würde. Warum man dann keine Spekulationssteuer umsetzt und Vermögen höher besteuert, mindestens so hoch wie Arbeitslohn, zeigt, daß es sich um dieselben Menschen handelt, die Armut lieber haben als etwas abzugeben obwohl dann diese Gesellschaft viel besser für die Bürger wäre und gerechter und sozialer. Aber in den nordischen Ländern gibt es auch keine so asozialen Regeln wie Hartz4 mit der Verarmungsregel für Lebensältere und es gibt im Alter eine umfassende Versorgung für jeden, egal wie viel man vorher verdient hat.

Das geht alles und ist sogar legal und gewollt.

Aber wer will das schon?

So machen die Menschen ihre Geschichte selbst, auch wenn sie nichts machen.

Macht wohl nichts?

 

Veröffentlicht in Bergisches

Das Ende des Industriezeitalters visualisiert an einem kleinen Beispiel – Honsberg Lamb in Remscheid

Es war Maschinenbau und es war High Tech. Aber es reichte nicht, weil andere Interessen eine Rolle spielten. Und so verschwand das Unternehmen Honsberg Lamb in Remscheid am Hasten.

Foto 1 – vor der letzten Betriebsversammlung

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Honsberg Lamb vor der letzten Betriebsversammlung Foto: M. Mahlke

Foto 2 – Honsberg Lamb vor dem Abriss – Stolz zeigt die Firma ihr Gesicht

 Honsberg Lamb stolze Architektur einer großen Firma - Foto: M. Mahlke
Honsberg Lamb stolze Architektur einer großen Firma – Foto: M. Mahlke

Foto 3 – vor dem Werkstor

 Am Werkstor von Honsberg Lamb - Foto: M. Mahlke
Am Werkstor von Honsberg Lamb – Foto: M. Mahlke

Foto 4 – vor der Gebäudefront

 Honsberg Lamb - Blick auf die Gebäude - Foto: M. Mahlke
Honsberg Lamb – Blick auf die Gebäude – Foto: M. Mahlke

Foto 5 – Honsberg Lamb – Vor dem Verschwinden

Honsberg Lamb nach dem Abriss - Foto: M. Mahlke
Honsberg Lamb nach dem Abriss – Foto: M. Mahlke

Foto 6 – vor dem Vergessen

Hier war Honsberg Lamb - Foto: M. Mahlke
Hier war Honsberg Lamb – Foto: M. Mahlke

Dieses Unternehmen prägte viele Jahre den Maschinenbau in der Automobilindustrie mit und die Region. Die Gebäude waren stumme Zeugen dramatischer Entwicklungen und einer sozialen Lanschaft, die lange bestand.

Bald sind die Gebäude als Erinnerngspunkte ebenso vergessen wie die sozialen Ereignisse.

Und die Politik hat die Menschen schon länger vergessen.

So verschwindet das Industriezeitalter und wird abgelöst durch die nachindustrielle Gesellschaft oder Industrie 4.0 oder wie es auch heißen mag. Gewinne und Risiken wurden dabei durch die Regierungen der letzten 25 Jahre verteilt: oben die Gewinne – unten die Risiken.

Veröffentlicht in Essay

Wir sind dabei – Historisches Denken im Zeitalter digitaler Gegenwart am Beispiel der Epoche des Industriezeitalters

Eine Skizze

Als Goethe mit einigen Soldaten während der Französischen Revolution nach Frankreich reiste, bestand die gesamte Reise nur aus schlechtem Wetter und keinerlei Kampf. Irgendwann saßen die Soldaten zusammen, verschimmeltes Brot war auch dabei und fragten sich, wieso sie überhaupt hier waren.

Und Goethe antwortete laut seiner Campagne in Frankreich: „Ihr aber könnt sagen, ihr seid dabei gewesen!“

Wie auch immer es genau war, es war eine Zeit, die später als Epoche abgegrenzt wurde.

Und genau so ist es heute. „Wir sind dabei – Historisches Denken im Zeitalter digitaler Gegenwart am Beispiel der Epoche des Industriezeitalters“ weiterlesen

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Soziale Denkmuster oder wie der Jugendwahn der Jugend die Zukunft nimmt

Immer noch ächzen die Politiker unter der angeblichen Last der Demografie und jammern über alternde Bevölkerung. Dabei ist ein interessantes Denkmuster festzustellen.

Wenn wir doch immer älter werden und die Jugend brauchen, müßte man doch viel dafür tun, daß man die jungen Menschen eingliedert und stabilisiert.

Dazu würden für mich u.a. folgende Gedanken gehören. „Soziale Denkmuster oder wie der Jugendwahn der Jugend die Zukunft nimmt“ weiterlesen

Veröffentlicht in Essay

Wann wird Zeit zur Geschichte?

In Köln ist gerade eine Ausstellung zum Thema Innere Sicherheit. Die Kuratoren haben dort extra Informationen zu Themen wie RAF eingefügt, weil dies heute viele junge Menschen nicht mehr wissen.

Das ist eines von vielen Beispielen. Ich bin nun über 50 und erlebe wie vieles von dem, was ich aktuell in meinem Bewußtsein trage und was mich bei meinem Handeln und Urteilen begleitet, bei vielen anderen Menschen überhaupt keine Rolle spielt. „Wann wird Zeit zur Geschichte?“ weiterlesen

Veröffentlicht in Bergisches, Zeitgeschichte

Mythen der Industriekultur – der Mythos im Ruhrgebiet und der im Bergischen Land

„Die Frühjahrsausgabe des Forum Geschichtskultur Ruhr, vormals Forum Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur, setzt sich mit seinem Themenschwerpunkt „Kulturhauptstadt historisch“ mit den Projekten der Museen, Archive, Vereine und Initiativen im Kulturhauptstadt 2010 auseinander. Zahlreiche Akteure kommen im vorliegenden Heft mit ihren „Bilanzierungen“ zu Wort.

Zwar sei der Wandel des Ruhrgebietes zur Metropole Ruhr herausgestrichen worden, so Achim Prossek in seinem Beitrag zur Bedeutung von Geschichte im Jahr der Kulturhauptstadt, dabei sei aber der „Strukturwandel … als Erfolgsgeschichte verkauft [worden], ohne nach den mit ihm einhergehenden Verletzungen, Verlusten und Kompensationen zu fragen“. Bedient werden sollte der Mythos Ruhr, an dessen historisch-kritischer Dekonstruktion kein hervorragendes Interesse bestand.

Doch haben in Mythen verfestigte Muster der Deutung von Geschichte es an sich, dass sie in Phasen beschleunigten gesellschaftlichen Wandels ihre Bindungs- und Orientierungskraft für die Gegenwart verlieren. In diesen Kontext sind Dieter Nellens Überlegungen zur Konturierung des Begriffs „Industriekultur“ in der regionalen Geschichtspolitik zu stellen, da nach der Zeit von RUHR.2010 mit diesem Kernbegriff der Ruhrgebietsidentität das So-geworden-sein weiterhin zu klären und für die Zukunft entwicklungsfähig zu gestalten ist.“

Das sind starke und gute Worte, die ich auf der Webseite des Forum Geschichtskultur fand.

Daraus leite ich die Frage ab, gibt es einen solchen Mythos auch im Bergischen Land?

Die älteste Industrieregion Europas oder eine der ältestens Handelsregionen?

War es überhaupt eine Region?

  • Wuppertal mit der Wupper im Tal und der Textilindustrie,
  • Solingen mit der Schneidwarenindustrie,
  • Remscheid mit der Werkzeugindustrie

Später wurden Bergische Kotten mit Wasserkraft abgelöst von Maschinenhallen und der Maschinenbau wurde Bestandteil aller Städte.

Und daneben gibt es ja noch das Bergische Land ab Wermelskirchen bis hinter Gummersbach. Diese Region will mit den bergischen drei Städten nichts zu tun haben.

Und es gehört auch zur Wahrheit, daß die Regierungspräsidentin von Köln zwar über Remscheid regiert, aber von Remscheid aus kein Zug nach Köln fährt.

So gehört es zu den Glücksfällen dieser Region, daß Susanne Abeck zusammen mit Studierenden ein Buch herausgegeben hat, welches diesen industriellen Flecken einen Rahmen gibt, der Blicke auf die Vergangenheit und die Gegenwart ermöglicht.

Es ist ein Highlight der Region.

Das Buch von Susanne Abeck (Hrsg.): heimat handwerk industrie. Museumshandbuch Bergisches Land ist im klartext-verlag erschienen.

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Wie schreibt der Verlag?

Das Bergische Land mit seinen reizvollen Höhenzügen lädt nicht nur zum Spazierengehen und Durchatmen ein, sondern macht mit seinen knapp 60 Historischen Museen und Sammlungen auch Lust auf eine Geschichtstour. Beeindruckend ist die Vielfalt an Geschichts- und Erinnerungsorten, die von großen Industriemuseen über Regional- und Stadtmuseen hin zu zahlreichen Privatsammlungen reicht.
Zudem wartet die Museumslandschaft des Bergischen Landes mit einigen Superlativen auf: die erste Fabrik des europäischen Festlandes, die deutschlandweit größten Spezialmuseen zu Papier und Werkzeug und die weltweit größte Sammlung historischer Bestecke können hier besichtigt werden. Hinzu kommen die Menschen vor Ort, die, häufig ehrenamtlich tätig, den Museumsbesuch zu einer echten Begegnung mit der Geschichte des Bergischen Landes machen.

Im Ruhrgebiet versucht man den Mythos der einheitlichen Region als Metropole Ruhr #metropoleruhr weiterhin aufrecht zu erhalten.

Im Bergischen Land ist kein soziales oder strukturelles städteübergreifendes Band vorhanden, weder im ÖPNV noch bei Verwaltungsstrukturen. Systematisch wurschtelt jeder vor sich hin. Das Bergische Land ist ein Beispiel für die Rückkehr des deutschen Flickenteppichs aus der Zeit vor Napoleon. Es fehlen nur die Schranken. Statt Verwaltungsstrukturen und einen ÖPNV zu schaffen, der z.B. einen Großraum der bergischen Städte schafft mit der Möglichkeit für alle Bürger gut und günstig überall hin zu kommen, mauert sich jede Stadt durch eigene Fahrkarten und Gebühren eher ein. Miteinander und bürgernah sehen anders aus.

So kann die Gegenwart wie die Vergangenheit sein. Wenn es einen Mythos vom Bergischen Land gibt, dann ist es der vom Flickenteppich – und der lebt weiter.

Nachtrag: Wie alles umgebogen wird, um an Fördergelder zu kommen, kann man nun hier sehr schön lesen. Jetzt gibt es die „Metropolregion“.

 

Veröffentlicht in Essay

Digitaler Textismus – Immer mehr Menschen produzieren immer mehr Texte

Ob es jemals eine Epoche gab in der so viele Texte zur Verfügung standen?

Im deutschsprachigen Raum beobachte ich den digitalen Akademismus: immer mehr Akademiker produzieren immer mehr Texte. Das ist auch logisch. Um die eigene Arbeit zu dokumentieren und zu legitimieren sind Texte wesentlich und wenn es beruflich nicht so läuft sollten Texte natürlich Aufmerksamkeit verschaffen. Und so gibt es immer mehr Gründe für noch mehr Texte. Und erweitert um Nicht-Akademiker bzw. Lebenspraktiker lande ich beim digitalen Textismus.

So ersäuft man in der Masse, wenn man sich nicht freischwimmt.

Wenn ich nur ein paar von denen nehme, die schon filtern und ordnen neben den unzähligen anderen Blogs und darauf schaue

dann wird deutlich, daß nur mit gezielter Suche und knallharter Auswahl ein echter Informationsgewinn noch möglich ist.

Die Auswahl bzw. das auswählende Lesen nehmen immer mehr Zeit in Anspruch.

Umgekehrt gilt, um einen relativ kurzen und lesbaren Artikel zu schreiben (wie hier), ist der Aufwand ziemlich hoch.

Hinzu kommen die vielen einzelnen und guten Blogbeiträge  an unendlich vielen Stellen im Netz und wer mehrere Sprachen kann, der hat noch viel mehr Auswahl, wobei google und bing immer die Vorauswahl treffen.

Von Videos ganz zu schweigen ….

So ist der Fachmann derjenige, der von immer weniger immer mehr weiß, bis er von nichts alles weiß:

„Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor;
Heiße Magister, heiße Doktor gar …“

Es bleibt beim Einblick und der Einsicht: Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

 

Veröffentlicht in Neuzeit, Zeitgeschichte

Visuelle Schätze aus der Archäologie sozialer Landschaft – Beispiele

Unsere Lebenszeit ist endlich und ein ununterbrochener Wandel. Was von unseren sozialen Entwicklungen bleibt, ist die Architektur und Symbolik im öffentlichen Raum, die erinnern soll und die Machtverhältnisse zeigen soll – Denkmäler eben.

Spätere Generationen begegnen dann diesen Zeugnissen und brauchen Wissen, um zu wissen, was es war und was es bedeutete. Die historische Einordnung ist bei der Begegnung dann der wichtigste Schritt. Daraus entsteht Erinnerungskultur. Deshalb ließen die Sieger auch oft die Säulen und Zeugnisse der Besiegten zerstören, damit man Denkmäler nicht sehen kann, um sich daran zu erinnern.

Ich entdeckte nun bei einem Ausflug in die Vergangenheit und Gegenwart der sozialen Landschaft drei visuelle Schätze, die ich fotografisch festhielt – „Denkmale“ von gestern bis zum Alltag der Gegenwart.

Diese drei Schätze aus der Erinnerungskultur möchte ich hier vorstellen.

Es handelt sich um Begegnungen von Menschen mit Überresten aus der Vergangenheit in der Gegenwart.

Foto 1

Meine Begegnung mit dem Erzengel Michael in saturnischer Form (Stein pur). Ich traf mich und wurde mit mir nicht fertig !? Die Völkerschlacht von Leipzig wäre heute wohl keine Erwähnung mehr wert, wenn nicht dieses monumentale Denkmal entstanden wäre. Und es wirkt auch fotografisch, wenn das Licht und der Moment stimmen.

Foto: M. Mahlke
Foto: M. Mahlke

Foto 2

Meine Begegnung mit der Geschichte – 2016 treffe ich auf 1946

Die ganze Geschichte dazu gibt es hier.

Foto: M. Mahlke

Foto 3

Mitten im Leben – der Erotik-Discount

Diese Geschichte ist Geschichte und Gegenwart. In einem alten Bürgerhaus mitten in der Stadt hat ein Erotik-Discount aufgemacht, der wirklich so aussieht. Es ist eine großartige Mischung visueller Zusammenfassung des roten Fadens, der die Menschheitsgeschichte erzählt.

Foto: M. Mahlke
Foto: M. Mahlke

So wurde meine Reise von visuellen Erlebnissen geprägt, die für mich Schlüssel sind, um die Welt damals und heute zu sehen und die durch ihre bloße Existenz heute weiter wirken – indem man sie sieht oder übersieht …

Von Napoleon über die Nachkriegszeit bis zur menschlichen Natur.

Ab hier könnte ich nun einen Roman darüber schreiben. Den überlasse ich ihrer Phantasie.

 

 

Veröffentlicht in Alle, Zeitgeschichte

Plakate von 1945 erhalten bis 2016

Wie in einem Roman entdeckte ich hinter einer zugewachsenen Pflanzenwand in einem alten Fabrikgebäude eine alte Plakatwand mit Anschlägen seit 1945.

Und dies im Jahre 2016!

Kurz danach war ich in einem Zeitgeschichtlichen Forum und wies darauf hin, daß man dort noch diese Originale findet. Keiner war zuständig und es bestand kein Interesse.

Das Fraternisierungsverbot wurde am 1.10.1945 in den Westzonen aufgehoben. Das Plakat verkündet es noch. Es stammt aber auch aus der „Ostzone“.

So dokumentiere ich dies im Rahmen von visual history und stelle es hier online. Wahrscheinlich ist das Original bald abgerissen, aber nun ist es digital gerettet.

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke
Veröffentlicht in Essay, Zeitgeschichte

Soziale Kämpfe im Ruhrgebiet und im Bergischen Land zwischen 1987 und 2010

Es hat knapp dreißig Jahre gedauert bis die Fotos von Michael Kerstgens über den Stahlarbeiterstreik in Duisburg-Rheinhausen 1987 als Buch erschienen sind. Dieses Buch wurde u.a. durch die Hans-Böckler-Stiftung gefördert. Es ist ein gutes Buch geworden und es erinnert mich an meine eigenen Erlebnisse.

Michael Kerstgens zeigt Fotos von 1987 bis 1993 als im Walzwerk in Hagen die letzte Schicht war und symbolisch das Ende des gesamten sozialen Konstruktes.

Und im Bergischen Land ging es dann weiter.

Ich erinnere mich noch wie heute. Am 1. September 1992 fand eine Betriebsversammlung bei  einer großen Remscheider Firma statt. Dort wurde verkündet, daß das Werk aus Remscheid nach Ostdeutschland verlagert wird, weil dort quasi alles subventioniert wurde und die Löhne niedriger waren. Die Entscheidung war die unternehmerisch logische Folge politischer Vorgaben nach der Wiedervereinigung. Auf dieser Versammlung sagte ein Beschäftigter, er könne auch für die Hälfte arbeiten, wenn die Preise und Mieten sich halbieren würden. Aber das war natürlich politisch nicht gewollt. Und so kam es wie es kommen mußte.

Das war der Auftakt und danach wurde es von Jahr zu Jahr schlimmer in der Region Remscheid/Solingen/Hückeswagen etc.

Meine persönlichen Erlebnisse mit Arbeitsplatzabbau und Sozialabbau „gipfelten“ erstmalig im Kampf um das Mannesmann-Werk in Remscheid 1999 und 2000.

Dabei waren die Interessen innerhalb des Konzerns, der Betriebsräte und der IG Metall je nach Ebene und Funktion sehr unterschiedlich, oft diametral entgegengesetzt wie ich rückblickend im Laufe von Jahren in einem sozialen Puzzle zusammensetzen konnte. Aber Einzelne auch in der IG Metall setzten sich über alle Widerstände hinweg und gaben so den Kämpfenden vor Ort ihre Selbstachtung  zurück, auch wenn dies das Ende ihrer Karriere war.

Mannesmann und Krupp waren eben echt mitbestimmt und deshalb ist die Verantwortung von Arbeitnehmervertretern auch eine andere gewesen als bei der Pseudomitbestimmung, die durch die zweite Stimme des Vorsitzenden immer ausgehebelt werden kann. Das Ganze hat dadurch eine andere politische Qualität. Doch dies nur am Rande.

Ich komme darauf, weil ich mich nach der Beschäftigung mit dem Buch von Michael Kerstgens so genau daran erinnere. In der Bevölkerung in Remscheid war die gleiche Solidarität wie in Rheinhausen und die Abläufe waren denen so ähnlich, daß das Buch von Michael Kerstgens bei mir alte Wunden aufgerissen hat.

Das Ganze nahm mich auch persönlich sehr mit. Und mit Mannesmann endete die Deindustrialisierung ja nicht. Es war kein Umbau es war fast nur Abbau. Die Ursachen waren rein politisch und nicht alternativlos.

So ist meine digitale Dokumentation über den Kampf um Mannesmann in Remscheid 1999/2000 die logische Fortsetzung der gedruckten Dokumentation über den Kampf in Duisburg-Rheinhausen 1987/1988. 

Soziale Kämpfe zwischen Ruhr und Rhein entlang der Wupper.

Erwähnen möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich noch das Buch von Horst-Dieter Zinn, das online verfügbar ist. Er fotografierte damals in Hattingen bei der Schließung der Henrichshütte bis 1987 nicht die Kämpfe sondern die Menschen, die davon und darum lebten. Es ist ein wunderbares Buch geworden, ein Dokument über die soziale Landschaft in Hattingen und ein echtes Stück Erinnerungskultur mit dem desillusionierenden und dokumentierenden Titel „Eine Heimat geht bankrott“.

Damit zurück zum Bergischen Land.

Die Region vor dem Ruhrgebiet im Bergischen Land zerbröckelte industriell praktisch, weil die Politik nur öffentliche Gelder für den Strukturwandel im Ruhrgebiet bereitstellte. Die Landes- und Bundespolitiker zuckten immer nur mit den Schultern, wenn Geld für den Strukturwandel in Remscheid, Solingen und Umgebung gefordert wurde. Da kam nichts.

Dafür kamen Firmenpleiten und Verlagerungen in einem bis dahin ungeahnten Ausmaß jenseits eines Weltkrieges.

Auch das dokumentierte ich fotografisch mit Beispielen unter dem Titel 15 Blicke auf das Arbeitsleben bis zu dem Versuch, die Agenda 2010 mit der Rente ab 67 zu verhindern, die den Arbeitnehmern dann den Rest gab.

Alles endete in diesem Ausmaß ungefähr 2010 als die Agenda 2010 voll wirkte und der soziale Kahlschlag in Deutschland als asoziale Meisterleistung politisch gefeiert wurde.

Regional betrachtet sind damit wesentliche Kämpfe mit Symbolcharakter, die die Machtverhältnisse und die politisch gemachten sozialen Veränderungen und Verwerfungen zeigen, fotografisch dokumentiert und stehen als Teil des visuellen Gedächtnisses dieser Region zur Verfügung.

Nicht alles ist gedruckt aber alles ist präsent und öffentlich und zumindest meine Dokumentationen sind digital offen sichtbar.

Alle Fotos sind Kinder ihrer Zeit. Michael Kerstgens hat damals die analogen Reportagefotos in Schwarzweiß gemacht, ich habe die ersten digitalen Fotos in Farbe mit kleinen Kompaktkameras gemacht und versucht, diese schon 1999 in die Internetwelt zu tragen mit der Domain solidaritaet.de.

Heute übernehmen dies nur zum Teil soziale Netzwerke, weil diese ja auch Ausdruck von Machtverhältnissen sind.

Was sich zwischen Ruhr und Rhein getan hat ist nun mit Fotos aktualisiert verfügbar.

Die Fotos tun heute natürlich nur noch denen weh, die damals Erlebnisse hatten, die sich einprägten. Für alle anderen sind sie oft eher langweilig, weil sie Nüchternheit, Funktionalität und Industrielle Zivilisation zeigen, eben die sichtbaren Elemente einer eher unsichtbaren sozialen Landschaft, die nur bei sozialen Ereignissen mal sichtbar wird.

In Duisburg-Rheinhausen war Franz Steinkühler, in Remscheid Klaus Zwickel und Peer Steinbrück und Wolfgang Clement. Wolfgang Clement malte man sogar ein großes Porträt, weil er als Hoffnungsträger galt. Aber bei ihm hatten sich ja alle gründlich getäuscht.

Das visuelle Gedächtnis der Region ist nun besser sichtbar. Die sozialen Narben der Beteiligten und Betroffenen sind nur persönlich spürbar.

Aber ohne das Buch von Michael Kerstgens hätte ich den Blick nicht noch einmal so auf das Geschehen gelenkt und meine Bilder im Kopf herausgeholt. Sich dem zu stellen bedeutet damit zu leben.

Es gab kein Happyend.

Es ist vor Ort vorbei und es gibt neue Herausforderungen.

Das Soziale ist eben Schicksal und Chance des Menschen und wird es bleiben.

Und Macht wird nur durch Gegenmacht begrenzt, auch in Organisationen.

Das bleibt.

Veröffentlicht in Alle

Imperium Romanum Opus Extractum II von Alfred Seiland

So groß wie das Römische Reich so groß wirken auch die Fotos von Alfred Seiland. Das Buch Imperium Romanum Opus Extractum II bietet Begegnungen von Menschen mit Überresten aus der Geschichte. Primär visuell mit sehr informativen Texten gekoppelt gelingt es dem Fotografen, Geschichte und Gegenwart fotografisch zu verschmelzen. „Imperium Romanum Opus Extractum II von Alfred Seiland“ weiterlesen

Veröffentlicht in Essay

Arbeit führt wieder zu Elend – wenn man aus der Geschichte nichts lernt

„Aber wessen Dasein Arbeit heißt, dessen Ende ist immer Elend.“

Das schrieb Erich Grisar 1932 und wir dachten in der Bundesrepublik, daß wir diesen Zustand überwunden hätten. Doch dann kam die Sozialdemokratie und führte gemeinsam mit den Grünen unter dem Jubel von CDU und FDP die Armut wieder ein. „Arbeit führt wieder zu Elend – wenn man aus der Geschichte nichts lernt“ weiterlesen

Veröffentlicht in Buch, Neuzeit

Ruhrgebietsfotografien 1928–1933 von Erich Grisar

Es ist vielleicht eines der gehaltvollsten Fotobücher zur Dokumentarfotografie in Deutschland überhaupt. Der Dortmunder Schriftsteller und Fotograf Erich Grisar war fast vergessen und nun sieht man im Rückblick, daß es ohne ihn keine Blicke auf die soziale Vergangenheit des Ruhrgebietes in dieser Art geben würde. Was für ein Lob für einen leider Toten, der seine Lebenszeit bewußt und klar aufgezeichnet hat mit Kamera und Schreibmaschine! „Ruhrgebietsfotografien 1928–1933 von Erich Grisar“ weiterlesen

Veröffentlicht in Buch, Neuzeit

Mittelalter Fotografie von Charlie Dombrow, hrsg. Ulrich Dorn

„Wie geht ein Ritter in Rüstung zum Klo? Trug jedes Burgfräulein einen Keuschheitsgürtel? … Zum Glück haben sich die Zeiten gewandelt. Heutzutage kann man solche Fragen direkt jenen stellen, die die Antworten eigentlich wissen müssen. Beispielsweise einem echten Ritter, der sich auf einem Mittelalterfest gewiss auch mit der Entsorgung beschäftigen muß…  Das wiederbelebte Mittelalter ist ein wunderbares Thema für Fotografen. Entdecken Sie mit der Kamera eine abwechslungsreiche Szene, die Traditionen bewahrt und Historie lebt…“

Mit diesen Worten führt uns der Autor Charlie Dombrow in sein Buch über Mittelalter-Fotografie ein. „Mittelalter Fotografie von Charlie Dombrow, hrsg. Ulrich Dorn“ weiterlesen

Veröffentlicht in Heute, Neuzeit, Zeitgeschichte

Exodus. Sebastião Salgado

Die UN-Vollversammlung hat den 20. Juni zum zentralen internationalen Gedenktag für Flüchtlinge ausgerufen. Dieser Tag wird in vielen Ländern von Aktivitäten und Aktionen begleitet, um auf die besondere Situation und die Not von Millionen Menschen auf der Flucht aufmerksam zu machen.

Weltweit sind mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht, davon 41 Millionen in ihrem Heimatland. „Noch nie zuvor wurde die Marke von 60 Millionen Geflüchteten und Vertriebenen überschritten.“

Und nun liegt es vor mir, das Buch, das dies alles schon vor einer Generation zeigte und niemand kann sagen, er hätte es nicht früher wissen können.

„Denn der Band handelt eigentlich nicht von Einwanderern, sondern von Menschen auf der Flucht. Er wolle »die Geschichte einer in Bewegung geratenen Menschheit» erzählen, meint Salgado in seinem Vorwort. Seit Anfang der Neunziger hat er daher »Armutsflüchtlinge» an den Grenzen von USA und EU fotografiert, ethnische Flüchtlinge in Ex-Jugoslawien oder Ruanda sowie Menschen auf der »Landflucht» in den Metropolen Asiens und Lateinamerikas. Er selbst sei vor der Militärdiktatur in Brasilien nach Europa geflohen, betont der heute in Paris lebende Salgado. Daher könne er sich mit Flüchtlingen identifizieren. Seine Bilder sollen die Sensibilität für das zunehmende Elend verstärken.“

Diese Worte aus der Wochenzeitung freitag erschienen im Jahr 2000 als das Buch zum ersten Mal erschien.

Heute schreiben wir das Jahr 2016.

Die Neuausgabe heißt auf Deutsch Exodus, das bedeutet u.a. Auswanderung und Flucht.

Es ist ein Glücksfall, daß dieses Buch noch einmal aufgelegt wurde. Denn es war nur noch unter Sammlern zu hohen Preisen erhältlich. Damals kritisierte der Freitag das Buch wegen der Art wie Salgado fotografiert: „Wenn der westliche Betrachter den aufwendigen Bildband zur Hand nimmt, dann wird ihm in erster Linie ein hochästhetisches Panorama geboten. Nur selten fangen Salgados Bilder tatsächlich Situationen ein; es gibt kaum Dynamik. Im Mittelpunkt der Bilder stehen häufig charaktervolle Gesichter. Der überwiegende Teil der Fotos ist ganz bewusst inszeniert – eine kunstvolle Mischung aus Antlitz, Ambiente, Natur, Licht. Noch deutlicher wird diese Arbeitsweise bei den Porträts von Kindern, aus denen er einen Zusatzband gemacht hat. Salgado verwandelt das Foto zurück in ein Gemälde.“

Eine solche Kritik ist für mich absolut nicht nachvollziehbar. Und wenn aus einem Foto ein Gemälde werden sollte, welches mit Licht gemalt wurde, dann ändert dies nichts an der Kraft des Fotos sondern geht stattdessen sogar darüber hinaus. Schauen Sie selbst!

Es ist vielmehr geradezu ein fotografischer Glücksfall, daß Salgado mehr zeigt als das nackte Elend.

Seine Art der Fotografie macht das Anschauen erträglich und ermöglicht zu bleiben und sich nicht abzuwenden. Die damaligen Schwarzweiss-Fotografien ermöglichen eine nüchterne Distanz und die Fotos selbst sind dokumentierend und nicht ästhetisierend. Das Foto auf S. 127 mit den schlafenden Flüchtlingen ist eher schockierend. Denn wer sich mit Fotos beschäftigt erinnert sich an die Leichenberge im KZ der vergasten toten Menschen und assoziiert diese eher mit den schlafenden Frauen und Kindern auf diesem Foto. Und damit bin ich noch nicht bei den realen Leichenbergen wie die, die man auf S. 193 sehen kann.

Je mehr ich die Fotos von Salgado betrachte und mit heutigen Fotos vergleiche, desto mehr stört mich die Farbe an vielen Flüchtlingsfotos von heute, die oft den Menschen auf den Fotos ihre dominierende Aussage nehmen und durch Farbenpracht ersetzen.

Das Buch Exodus ist ein prächtiges Buch, das Geschichte und Gegenwart vermengt und zeigt, daß die Gegenwart von heute die Geschichte von morgen ist. Und so ist es auch mit den Fotos. Die Fotos von heute erzählen die Geschichte von morgen.

Salgado war damals (sechs Jahre bis 1999) dort wo Flucht und Vertreibung waren. Er sammelte als Einzelperson weltweit Eindrücke. Das ist noch nicht lange her.  Wir waren 1999 und 2000 alle schon dabei. Aber wenn über Flucht und Vertreibung gesprochen wurde, wen interessierte das? Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Welt feierte der Neoliberalismus und fraß alle sozialen Strukturen, die er kriegen konnte. Und eine der Folgen in unserer Zeit ist die Zunahme von Flucht und Vertreibung.

Immer mehr Menschen kommen aus „gescheiterten Staaten“ zu uns wie Sebastiao Salgado heute zu Recht erklärt.

Und weil er diesen Weitblick hat, schrieb er schon 1999: „Für mich sind diese weltweiten Völkerwanderungen eine ähnlich historische Zäsur wie der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Lebensweise, Produktion, Kommunikation, Verstädterung und Reisegewohnheiten sind revolutionären Veränderungen unterworfen.“

Statt damals die Ästhetik von Salgados Fotos zu kritisieren, hätten die Journalisten vom Freitag sich medial mal besser mehr dafür eingesetzt, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Das haben sie aber nicht getan wie man heute sieht.

Und deshalb ist das Buch von Salgado ein gutes Buch zur genau richtigen Zeit. Seine Fotografien ordnen die aktuellen Entwicklungen in einen historischen Kontext ein und zeigen, daß in den letzten 20 Jahren nichts besser wurde sondern stattdessen der Neoliberalismus den Verlust der Staatlichkeit ebenso verstärkt hat wie die Zunahme von Krieg, Flucht und Vertreibung.

Salgado erzählt in diesem Buch visuell Geschichte und er liefert zudem eine Ästhetik, die es möglich macht hinzuschauen.

Das Buch ist fotografisch und inhaltlich richtig gut und zeigt Zeitgeschichte mit direkten Verbindungen zur Gegenwart. Bücher können Zusammenhänge über den Tag hinaus aufzeigen. Dieses Buch kann durch seine Neuauflage sogar direkt die Tür zwischen gestern und morgen öffnen.

Insofern ist dieses Buch ein Geschichtsbuch, schreibt selbst Geschichte und fordert uns auf, mit Realismus und Weitblick demokratische und soziale Antworten zu finden auf die menschlichen Tragödien. Dazu gehört aber eben auch die Einsicht, daß die Voraussetzung die Stärkung der demokratischen Staatlichkeit ist und nicht deren Verlust durch offene Grenzen ohne Kontrolle.

Freiheit braucht einen Rahmen wie gute Fotos auch.

Das Buch ist im Taschen Verlag erschienen.

Sebastião Salgados groß angelegte Bilddokumentation Exodus ist mittlerweile ein Klassiker zum Thema Migration und Vertreibung. Mehr als sechs Jahre investierte er in den 1990ern, um auf der ganzen Welt Menschen zu porträtieren, die durch Krieg, Völkermord, Unterdrückung, Elend und Hunger gezwungen waren, ihre Heimat aufzugeben und sich auf eine Reise mit ungewissem Ausgang zu begeben. In Südamerika, auf dem Balkan, in den Slums der Megacitys Asiens, im Nahen Osten und im Herzen Afrikas traf er Menschen, die zu einem Leben verurteilt waren, das sich der kleine glückliche Teil der Menschheit, der in Wohlstand und Frieden lebt, kaum auszumalen vermag.

Weit mehr als ein Jahrzehnt ist vergangen, seit Exodus erstmals veröffentlicht wurde. Zu den größtenteils immer noch virulenten Krisenherden der 1990er sind neue hinzugetreten, zu den Millionen von heimatlosen und unbehausten Menschen von damals weitere Millionen hinzugekommen.
Im Balanceakt zwischen der Dramatik der Situation und den ästhetischen Ansprüchen an Aufbau und Komposition seiner Bilder führt Salgado uns einen Prozess globaler Verelendung vor Augen, aus dem wir uns als Akteure im globalen Zusammenspiel ökonomischer und politischer Prozesse nicht mit voyeuristischer Schaulust entziehen können. Nicht erst seit Flüchtlingsboote an den Mittelmeerküsten anlanden und Ertrunkene an den Stränden liegen.

Sebastião Salgado begann 1973 seine berufliche Karriere als Fotograf in Paris und arbeitete in der Folge für die Fotoagenturen Sygma, Gamma und Magnum Photos. Im Jahr 1994 gründete er gemeinsam mit seiner Frau Lélia die Agentur Amazonas images, die sein Werk exklusiv vertritt. Salgados fotografische Projekte wurden in zahlreichen Ausstellungen und Büchern gezeigt, darunter Other Americas (1986), Sahel, L’Homme en détresse (1986), Arbeiter (1993), Terra (1997), Migranten (2000), Kinder der Migration (2000), Africa (2007) und Genesis (2013).
Lélia Wanick Salgado studierte Architektur und Stadtplanung in Paris. Ihr Interesse für die Fotografie entdeckte sie 1970. In den 1980er-Jahren begann sie, Fotobücher zu konzipieren und zu gestalten und Ausstellungen zu organisieren, u.a. über Sebastião Salgado, darunter Genesis. Seit 1994 ist Lélia Wanick Salgado Geschäftsführerin von Amazonas images.

Leben auf der Flucht
Sebastião Salgados klassische Bildreportage zu Migration und Vertreibung
Sebastião Salgado. Exodus
Sebastião Salgado, Lélia Wanick Salgado
Hardcover mit Begleitheft, 24,8 x 33,0 cm, 432 Seiten

ISBN 978-3-8365-6129-7
(Deutsch)